Von Gudrun Dometeit
Klar, Wahlkampfzeiten haben ihre eigenen Gesetze. Emotionen wecken, der eigenen Klientel das Blaue vom Himmel versprechen, den politischen Gegner vorführen, heikle Themen vermeiden. Dabei müsste dieser Wahlkampf eigentlich anders, ernsthafter laufen, weil die Lage ernster ist, innenpolitisch, wirtschaftlich und außenpolitisch. Weil den Bürgern vieles auf den Nägeln brennt, allem voran die Migration. Das weiß natürlich auch Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz, der noch vor der Bundestagswahl am 23. Februar ein restriktives Gesetz zur Begrenzung der Zuwanderung durchsetzen will. Er will sich als entscheidungsstarker Macher zeigen, mit dem Risiko zu verlieren. Gewonnen hat er auf jeden Fall die Diskussionsführerschaft. Die politischen Mitbewerber springen drauf – mangels eigener Ideen oder Initiativen. Oder schon mal von einer des Bundeskanzlers Olaf Scholz gehört? Haben wir doch alles gut gemacht, weiter so!
Was jedoch wirklich nervt, ist, dass sich die Diskussion plötzlich weniger um Migration dreht als vielmehr um ein Thema, in das sich das politische und mediale Berlin immer wieder gerne verkrallt: das Verhältnis zur AfD. Denn Merz könnte eine Mehrheit für seinen Vorstoß vermutlich nur mit deren Stimmen gewinnen. Ich will das nicht klein reden, aber ist es wirklich das drängendste Problem, das die Wähler gerade umtreibt? Unternehmer haben gerade für heute zum ersten Mal zu einem bundesweiten Wirtschaftswarntag aufgerufen, weil sie sich ernsthafte Sorgen um den Industriestandort Deutschland machen. Die Bürger ächzen unter Bürokratisierung, hohen Steuern, teurer Energie. Warum hat eigentlich keiner der Kanzlerkandidaten bisher einen „Entbürokratisierungsminister“ vorgeschlagen, angesiedelt beim Kanzleramt, mit Durchgriffsrechten auf alle Ressorts? Wäre doch mal was. Oder eine grundlegende Rentenreform, kein Reförmchen? Null, kein Thema.
Das gilt auch für die Außenpolitik, Reaktionen auf Donald Trumpsche Ankündigungen ausgenommen. Wie gehen wir künftig mit China um? Wie kann man konkret einen Frieden in der Ukraine erreichen? Wollen wir wirklich Atomwaffen im eigenen Land? Null, keine Diskussion. Und müssten wir nicht eigentlich auch einmal über ein sehr spezifisch deutsches Thema diskutieren, was eigentlich der Satz „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ bedeutet? CDU, SPD und FDP haben ihn im Programm, diesen Satz, den Angela Merkel 2008 vor der Knesset in Jerusalem prägte. In einer außenpolitischen Grundsatzrede trug Merz vorige Woche mit Verve vor, er wolle den Grundsatz wieder mit Leben füllen und ein De-facto-Waffenausfuhrverbot nach Israel aufheben. Zum Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu erklärte er, es sei aus seiner Sicht „unvorstellbar“, dass dieser bei einer Reise nach Europa und Deutschland drohe verhaftet zu werden.
Aber was heißt das? Niemand spricht Israel das Recht auf Selbstverteidigung nach dem brutalen Überfall der Hamas im Oktober 2023 ab, die meisten Völkerrechtsexperten sind sich jedoch inzwischen einig, dass Netanjahus Feldzug weit darüber hinaus ging und wegen der vielen zivilen Toten gegen das humanitäre Völkerrecht verstieß. Das Deutschland in anderen Fällen doch so gerne hochhält. Steht die Regierung Israels über dem Recht? Wegen der besonderen historischen Verantwortung gehört Deutschlands Solidarität selbstverständlich Israel, aber sollte sie auch bedingungslos jeder Regierung gelten? Auch einem skrupellosen Machtpolitiker, der mit der Zerstörung des Gazastreifens die Saat für die nächste Terroristengeneration gelegt und damit die Sicherheit Israels jedenfalls nicht erhöht hat?
Gut, alles zu kompliziert für einen Wahlkampf, verstanden. Und heikel sowieso. Wenn Merz einen außen-und sicherheitspolitischen Politikwechsel im Falle seiner Wahl aber tatsächlich ernst meint, dann sind eher mehr als weniger Debatten nötig, auch über Kontroverses.