Sechs Wochen nach der Bundestagswahl haben die künftigen Regierungsparteien CDU/CSU und SPD einen Koalitionsvertrag vorgelegt. Auf 16 der 144 Seiten legen sie ihre Vorstellungen zur Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik dar. Auch die Präambel enthält grundsätzliche Feststellungen dazu, ebenso wie das Kapitel Wirtschaft zu einer veränderten Außenwirtschaftspolitik.
Auffällig – auch im Unterschied zur Politik der bisherigen Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen): Der Begriff „Werte“ taucht im Text selten auf, dafür finden sich die Worte „Strategie“ und „Interessen“ rund 50mal. So soll sich beispielweise die Entwicklungspolitik stärker an Interessen orientieren, zu denen die Bekämpfung von Fluchtursachen oder der Zugang zu Rohstoffen zählen. Allerdings bleibt das Programm meist vage bei der Erklärung einzelner Strategien oder strategischer Beziehungen, konkreter wird es höchstens beim Punkt Verteidigung. In anderen Bereichen verzichteten die Koalitionären schlicht ganz auf visionäre oder weiterführende Gedanken, so bei den Themen Rüstungskontrolle, Russland und europäische Sicherheitsordnung.
In Sachen China spricht der Vertrag nur noch von systemischer Rivalität und nicht mehr vom Partner und Wettbewerber wie es noch die Vorgängerregierung tat. Und auch anders als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), die inzwischen das offenbar diplomatisch geschmeidigere Wort „rebalancing“ in den Beziehungen zu China verwendet, ist hier noch immer von einem „derisking“ die Rede, also vom Abbau von Rohstoff- oder Technologieabhängigkeiten.
Alles in allem klingt der Fahrplan für die künftige Außenpolitik zwar nicht nach einem großen Aufbruch aber nach mehr Pragmatismus und Realitätssinn. Mit einer Ausnahme, die nach den immer chaotischeren Ansagen Donald Trumps besonders verwunderlich erscheint, und die betrifft die USA. Obwohl Friedrich Merz, der Kanzler in spe, sich mehrfach kritisch zur neuen US-Administration geäußert und sogar erklärt hat, seine oberste Priorität sei es, Europa dabei zu helfen, „Schritt für Schritt Unabhängigkeit zu erreichen von den USA“, lobt der Vertrag das transatlantische Verhältnis, will es sogar ausbauen. Angesichts der starken Abhängigkeit Deutschlands von US-Sicherheitsgarantien sei das zwar verständlich, sagt Jana Puglierin, Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations, „aber im Inland schafft diese Botschaft weder Vertrauen noch spiegelt sie das wahre Ausmaß der bevorstehenden Herausforderungen wider“. Genügend Power, die Herausforderungen anzunehmen, hätte Merz jedenfalls: Das Kanzleramt wird mit Bundessicherheitsrat, Nationalem Krisenstab und Lagezentrum ein außenpolitisches Kraftcenter.
Wir dokumentieren im folgenden die wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Passagen des Vertrages, dem die SPD noch per Mitgliedervotum zustimmen muss. Die CSU hat bereits am Mittwoch das Dokument einstimmig abgewunken. Die Wahl des Kanzlers wird voraussichtlich Anfang Mai stattfinden.
SICHERHEIT: Unsere Sicherheit ist heute so stark bedroht wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Die größte und direkteste Bedrohung geht dabei von Russland aus, das im vierten Jahr einen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und weiter massiv aufrüstet. Das Machtstreben von Wladimir Putin richtet sich gegen die regelbasierte internationale Ordnung.
Unser langfristiges Ziel bleibt das Bekenntnis zu Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sowie Abrüstung. Unser Bekenntnis zur NATO und zur EU bleibt unverrückbar. Das transatlantische Bündnis und die enge Zusammenarbeit mit den USA bleiben für uns von zentraler Bedeutung.
Wir entwickeln den Bundessicherheitsrat, im Rahmen des Ressortprinzips, zu einem Nationalen Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt weiter. Er soll die wesentlichen Fragen einer integrierten Sicherheitspolitik koordinieren, Strategieentwicklung und strategische Vorausschau leisten, eine gemeinsame Lagebewertung vornehmen und somit das Gremium der gemeinsamen politischen Willensbildung sein. Für eine ganzheitliche Bewältigung von Krisen braucht Deutschland einen Bund-Länder- und ressortübergreifenden Nationalen Krisenstab der Bundesregierung und ein Nationales Lagezentrum im Bundeskanzleramt, in dem ein Gesamtlagebild zusammengefügt wird.
Wir bekennen uns zur Stärkung des transatlantischen Bündnisses und zur fairen Lastenteilung. Wir halten an der nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO fest. Sie ist integraler Baustein der glaubhaften Abschreckung durch das Bündnis. Wir setzen uns dafür ein, den europäischen Pfeiler der NATO mit Nachdruck fortzuentwickeln. Wegen seiner geografischen Lage soll Deutschland als zentrale Drehscheibe der NATO weiter ausgebaut werden. Wir streben die Einführung eines mehrjährigen Investitionsplans für die Verteidigungsfähigkeit an, der im Einklang mit dem Deutschen Bundestag langfristige finanzielle Planungssicherheit gewährleistet. Öffentliche Finanzierungsprogramme sollen auch für Sicherheits- und Verteidigungstechnologie geöffnet werden. Wir wollen die Bundesagentur für Sprunginnovationen SPRIND stärken und ermöglichen, dass sie auch im Bereich Verteidigung tätig werden kann.
Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert. Wir richten unsere Rüstungsexporte stärker an unseren Interessen in der Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik aus. Wir wollen eine strategisch ausgerichtete Rüstungsexportpolitik, welche der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, ihren ausländischen Partnern sowie ihren Kunden Verlässlichkeit gibt. Exportkontrollgenehmigungen müssen rascher und koordinierter geprüft werden. Wir streben eine Harmonisierung der europäischen Rüstungsexportregeln an. Rüstungsexporte, bei denen ein erhebliches konkretes Risiko besteht, dass diese zur internen Repression oder in Verletzung des internationalen Rechts eingesetzt werden, lehnen wir grundsätzlich ab.
EUROPA: Wir wollen mehr qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU ermöglichen. Bei der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) übernehmen wir eine Führungsrolle. Wir wollen die EU-NATO-Zusammenarbeit stärken. Darüber hinaus werden wir in geeigneten Fällen intergouvernementale Formate, wie zum Beispiel das E3-Format (Frankreich, Vereinigtes Königreich und Deutschland), gegebenenfalls auch unter Einschluss von Nicht-EU-Staaten, als außenpolitisches Handlungsformat anwenden.
Angesichts des geopolitischen Epochenbruchs muss Europa umfassende strategische Souveränität entwickeln.
Wir wollen das Prinzip der verstärkten Zusammenarbeit im Sinne des Konzepts des „Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten“ stärker nutzen.
Im Interesse stabiler Finanzen sowie im Einklang mit den europäischen Verträgen haftet Deutschland weiterhin nicht für Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten.
Die deutsch-französische Freundschaft bleibt von überragender Bedeutung für ganz Europa. Wir werden sie auf Grundlage des wegweisenden Élysée-Vertrags und dessen Weiterentwicklung durch den Vertrag von Aachen vertiefen. Ebenso wollen wir die Freundschaft zu unserem östlichen Nachbarland Polen weiter ausbauen. Im Weimarer Dreieck werden wir die enge Abstimmung zu allen relevanten Fragen der Europapolitik suchen, um im Dienst der ganzen EU geeinter zu handeln. Im Format „Weimar plus“ sollten auch weitere enge Partner einbezogen werden.
Wir setzen uns für die rasche Einrichtung eines Gedenkorts für die Opfer der deutschen Aggression und Besatzung in Polen (1939-1945) auf dem Platz der ehemaligen Kroll-Oper sowie die Errichtung des Deutsch-Polnischen Hauses als Ort des Gedenkens und Begegnens im Zentrum Berlins ein.
Wir setzen uns für einen schrittweisen Integrationsansatz für Kandidatenländer ein, die noch nicht alle Beitrittsanforderungen erfüllen, aber Reformen beherzt umsetzen, ohne Abstriche bei den Kriterien oder bei der Integrität des Binnenmarktes. Dazu können insbesondere ein „Phasing-in“ in EU-Programme und -Politiken, die Gewährung eines Beobachterstatus im Europäischen Parlament und Rat der EU sowie eine assoziierte Mitgliedschaft in bestimmten Bereichen wie der GASP/GSVP ohne Stimmrecht gehören. Der wichtige EU-Beitritt der sechs Länder des Westbalkans, der Ukraine und der Republik Moldau liegt im wechselseitigen Interesse. Wir wollen die Unterstützungsanstrengungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten konsequent fortsetzen. Dazu gehört auch der Berliner Prozess – denn wir müssen gerade den Westbalkan-Ländern, die schon lange auf Fortschritte warten, belastbare Perspektiven bieten. Die Fortsetzung des Beitrittsprozesses mit Georgien kann erst wieder in Frage kommen, wenn die Zweifel an der Einhaltung der demokratischen Prozesse ausgeräumt sind.
Die Ukraine als starker, demokratischer und souveräner Staat ist von zentraler Bedeutung für unsere eigene Sicherheit. Wir werden deshalb unsere militärische, zivile und politische Unterstützung der Ukraine gemeinsam mit Partnern substanziell stärken und zuverlässig fortsetzen. Wir suchen in Abstimmung mit unseren Partnern nach Möglichkeiten, das eingefrorene russische Staatsvermögen zur finanziellen und militärischen Unterstützung der Ukraine wirtschaftlich zu nutzen Wir stehen zur Nato-Beitrittsperspektive für die Ukraine.
Wir streben ein umfassendes bilaterales Freundschaftsabkommen mit Großbritannien an.
NORDAMERIKA: Die Beziehungen zu den USA bleiben von überragender Bedeutung. Die transatlantische Partnerschaft ist eine große Erfolgsgeschichte für beide Seiten, die es auch unter den neuen Bedingungen fortzusetzen gilt. Handelspolitisch suchen wir den engen Schulterschluss mit ganz Nordamerika. Kanada ist für uns ein zentraler Bestandteil der transatlantischen Partnerschaft.
ISRAEL: Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels sind und bleiben Teil der deutschen Staatsräson. Die tragfähige Perspektive für ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern ist eine zu verhandelnde Zweistaatenlösung.
TÜRKEI: Die Türkei ist ein wichtiger strategischer Partner innerhalb der NATO, Nachbar der EU und einflussreicher Akteur im Nahen Osten, mit dem wir von der Sicherheitspolitik bis zur Migration gemeinsam geopolitischen Herausforderungen begegnen wollen. Eine grundlegende Verbesserung der demokratischen, rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Situation ist für uns ein zentrales Element. Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei von besonderer strategischer Bedeutung. Wir bedauern, dass sich die Türkei von der Werteordnung der EU zunehmend weiter entfernt.
GLOBALER SÜDEN: Wir werden die bilateralen Beziehungen zu den Ländern des Globalen Südens intensivieren und zu einem globalen Netzwerk ausbauen. Um dieses Verhältnis zu thematisieren, werden wir eine neue Nord-Süd-Kommission gründen. Auch mit schwierigen Partnern müssen wir im Rahmen einer wertegeleiteten Interessenpolitik Gesprächskanäle offenhalten und bei humanitären Krisen Unterstützung gewährleisten können. Unsere strategischen Interessen in der Region des Nahen und Mittleren Ostens verfolgen wir auf der Basis von Respekt und Gegenseitigkeit. Wir werden Syrien bei der Stabilisierung und beim wirtschaftlichen Wiederaufbau unterstützen und dies an klare Bedingungen knüpfen.
Wir wollen eine Afrikapolitik, die dem strategischen Stellenwert Afrikas gerecht wird. Partnerin für uns ist die Afrikanische Union. Wir wollen die Umsetzung der Afrikanischen Freihandelszone unterstützen.
Der Ausbau strategischer Partnerschaften mit den Staaten Lateinamerikas und der Karibik ist für uns von besonderer Bedeutung.
Für Deutschland und die EU ist eine stabile, freie und sichere Indo-Pazifik-Region von elementarem Interesse. Wir werden in der Region auch weiterhin Präsenz zeigen. Wir streben eine Vertiefung der strategischen Beziehungen mit Indien auf allen Ebenen an, unter anderem bei der globalen Energiewende und bei der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit. Ferner stehen wir für den Abschluss eines Freihandelsabkommens mit der EU ein. Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea sind für Deutschland und die EU enge Wertepartner.
CHINA: Mit China suchen wir Zusammenarbeit, wo dies im deutschen und europäischen Interesse liegt – vor allem bei der Bewältigung globaler Menschheitsaufgaben. In Bezug auf unsere Handels- und Investitionsbeziehungen drängen wir gegenüber China auf die Einhaltung der vereinbarten Regeln und auf volle Reziprozität. Wir müssen feststellen, dass die Elemente systemischer Rivalität durch Chinas Handlungen mittlerweile in den Vordergrund gerückt sind. Vor diesem Hintergrund werden wir einseitige Abhängigkeiten abbauen und eine Politik des De-Riskings verfolgen, um unsere Resilienz zu stärken. Eine Veränderung des Status quo von Taiwan darf es nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen geben.
IRAN: Mit unseren Partnern Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA werden wir darauf hinwirken, dass das iranische Nuklearprogramm beendet, die destruktive Rolle des Regimes in der Region zurückgedrängt und das ballistische Programm eingestellt werden. Wir unterstützen die internationalen Sanktionen gegen das iranische Regime und setzen uns weiterhin entschieden dafür ein, die Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste zu setzen. Wir werden den Druck erhöhen, indem wir Sanktionslücken schließen, Menschenrechtsverteidiger und vor allem Frauen gezielt unterstützen.
Humanitäre Hilfe werden wir stärken und verlässlich, gezielt und vorausschauend leisten. Dabei prüfen wir ein stärkeres Engagement nach dem Ausfall anderer Geber (die USA haben große Teile von USAid gestrichen, d.Red.) in wichtigen Bereichen.
Unsere Entwicklungspolitik ist zugleich werte- und interessengeleitet. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gehen einher mit unseren außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen. Wir brauchen grundlegende Veränderungen in der Entwicklungspolitik, die aktuelle geopolitische und ökonomische Realitäten stärker abbilden und gestalten müssen. Wir wollen, dass Deutschland und Europa gute Beziehungen zu den Ländern des Globalen Südens haben. Wir werden den integrierten Ansatz durch eine bessere Zusammenarbeit von Auswärtigem Amt, den Bundesministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie Verteidigung stärken, kohärent aufeinander abstimmen und entlang unserer Interessen ausrichten. Um die Effektivität und Kohärenz der öffentlichen Entwicklungsleistungen (ODA) des Bundes zu steigern und damit den Außenauftritt der Bundesregierung stringenter zu gestalten, werden wir die entwicklungspolitischen Schnittstellen zwischen den Ressorts reduzieren und die Leistungen, die nicht in den klassischen ODA-Ressorts liegen, im BMZ bündeln. Im Lichte unserer Interessen werden wir stärker auf folgende strategische Schwerpunkte setzen: wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen, Fluchtursachenbekämpfung sowie die Zusammenarbeit im Energiesektor. Wir werden eine gemeinsame Anlaufstelle der Außenwirtschaftsförderung und der Entwicklungszusammenarbeit für die deutsche Wirtschaft etablieren. Die Kooperationsbereitschaft der Partnerländer bei den Bemühungen, die irreguläre Migration nach Europa zu begrenzen und eigene Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zurückzunehmen, ist ein zentraler Faktor für den Umfang der bilateralen Regierungszusammenarbeit.
Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist ein zentraler Bestandteil der deutschen Außenpolitik, wichtiges Element der Soft Power Deutschlands und damit ein strategisches Instrument im globalen Wettbewerb um Ansehen, Einfluss, Narrative, Ideen und Werte. Sie stärkt den Wissenschafts-und Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir werden sie und die strategische Auslandskommunikation gezielt weiterentwickeln und als geopolitisches Instrument noch wirkungsvoller an unseren Werten und Interessen ausgerichtet einsetzen. gd