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„Wir haben fast immer die anderen machen lassen.“

Der Direktor des Deutschen Orient-Instituts, Andreas Reinicke, über mehr Einfluss Deutschlands im Nahen Osten und Waffenlieferungen an die libanesische Armee
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January 13, 2025
January 13, 2025

Interview von Gudrun Dometeit

Annalena Baerbock (li.) und ihr französischer Amtskollege Jean Noël Barrot (M.) trafen Anfang Januar den neuen syrischen Machthaber Ahmed al-Scharaa (re.), © photothek

Seit dem überraschenden Sturz des Assad-Regimes in Syrien ist ein Monat vergangen. Haben sie inzwischen ein klareres Lagebild gewonnen über das, was dort vor sich geht? Kann man den neuen Machthabern der islamistischen HTS-Miliz und ihrem Führer Ahmed al Sharaa trauen?


In der Anfangsphase hat al Sharaa eigentlich das Richtige gesagt und auch das Richtige getan. Es gibt jetzt aber doch einige Anzeichen, die man aufmerksam verfolgen muss.
Beispielsweise, dass er offensichtlich Frauen wie der deutschen Außenministerin nicht die Hand gibt - ein Ausdruck für eine eher konservative Interpretation des Islam. Und man hört auch, dass es Anweisungen aus dem Bildungsministerium gibt, den Bildungskanon religiös konservativ zu gestalten. Andererseits hat er drei Frauen in Führungspositionen ernannt, darunter die Präsidentin der Zentralbank und eine Gouverneurin. Es sind also gemischte Signale.


Es hat ungeheuerliche Gewaltverbrechen in Syrien gegeben, von Seiten des Assad-Regimes, aber auch von Seiten der Islamisten. Ist es überhaupt vorstellbar, dass die HTS, die eng mit der Terrorgruppe al Qaida verbunden war, auch eigene Gewalttaten irgendwann im Rahmen eines Versöhnungsprozesses aufarbeitet? Dafür spricht allerdings nicht gerade, dass ein ehemaliger Scharia-Richter, der angebliche Ehebrecherinnen hinrichten ließ, zum Justizminister bestimmt wurde.

Ich habe den Eindruck, dass es auch auf Seiten der neuen Machthaber Richtungskämpfe gibt, und man kann nur hoffen, dass sich die moderateren Gruppen durchsetzen. Es gibt natürlich Versuche, jetzt die Täter des Assad-Regimes zu belangen. Gerade wurde ein führender Alawiten-General verhaftet. Die Frage, was mit den Opfern der anderen Seite ist, ist noch offen. Das müssen wir während der Aufarbeitung der Vergangenheit sorgfältig beobachten.



Gibt es ein Modell, das als Vorbild für den Versöhnungsprozess der diversen religiösen und ethnischen Gruppen dienen könnte?


Es gibt verschiedene Muster - Südafrika, San Salvador, Tunesien. Aber da sollte man realistisch sein. Eine Aufarbeitung wie bei uns nach dem zweiten Weltkrieg und nach dem Fall der Mauer, in einem ganz anderen kulturellen Kreis, wird es in Syrien wahrscheinlich nicht geben. Aber es geht darum, dass Personen zur Rechenschaft gezogen und Signale ausgesandt werden, dass das alle treffen kann. Eine perfekte juristische Aufarbeitung halte ich für wenig wahrscheinlich.



Was spricht gegen einen erneuten Bürgerkrieg? Um dies zu verhindern, wäre eine große Demilitarisierung nötig. Al Sharaa hat angekündigt, alle bewaffneten Gruppen in eine gemeinsame nationale Armee integrieren zu wollen. Kann das gelingen?  

Es ist möglich, wenn die Minderheiten darauf vertrauen, dass die neue Zentralregierung ihre Rechte schützt. Wenn sie das Gefühl haben, dass die Entwaffnung nur dazu dient, sie wehrlos zu machen und eigene Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen, dann wird es nicht funktionieren. Nicht nur wir, vor allem die Syrer selber beobachten nun die unterschiedlichen Signale sehr genau.  Es ist jetzt die Kunst von al Sharaa und letztendlich auch von uns Europäern, diesen Prozess in eine für alle Seiten akzeptable Richtung zu lenken.



Viele fürchten, der sogenannte Islamische Staat, der noch zahlreiche Kämpfer im Untergrund hat, könnte jetzt die Übergangsphase für Rückeroberungen und Terror nutzen. Ist das tatsächlich eine tickende Zeitbombe, wie manche meinen?

Das ist auf jeden Fall eine Gefahr. Es gibt die IS-Lager in den kurdischen Gebieten, die noch von den Kurden kontrolliert werden. Sie werden jedoch von den Türken bedrängt. Auch um die Oasenstadt Palmyra  kontrolliert der IS Gebiete, wenn auch weitgehend menschenleere.  Vermutlich wird er also seine Chance  nutzen. Allerdings hat er im relativ moderaten Syrien wenig Unterstützer. Deswegen dürfte es nicht so einfach werden für den IS.  Angriffe auf Syrer und syrische Institutionen lehnen viele ab,  Institutionen würden sie im Zweifel verteidigen.



Was bedeutet das Bombardement der Türkei, die die Kurden im nördlichen Grenzgebiet am liebsten entwaffnen und vertreiben würde? Die Kurden sind ja so etwas wie die letzte Bastion im Kampf gegen den IS.  Ist eine solche Einmischung nicht absolut fatal? Kann man auf die Türkei einwirken?

Das ist genau das Dilemma. Die Türken antworten nach meiner Beobachtung auf entsprechende Fragen meist, dass sie die Gefahr des IS als nicht so groß ansehen. Aber das halte ich für eine gefährliche Einschätzung und eher für Zweckoptimismus. Daher ist es wichtig, dass die Kurden sich letztlich integrieren in einen syrischen Staat, der sowohl den Interessen der Türkei als auch denen der Kurden Rechnung trägt. Wenn das nicht gelingt, die IS-Lager nicht mehr bewacht und die Insassen freigelassen werden, ohne die meist dem IS nahestehenden Frauen, Mütter und ihre herangewachsenen Kinder zu integrieren, dann hat man ein großes Problem.



Im Kurdengebiet sind noch rund 900 US-Soldaten stationiert. Halten Sie es nach Äußerungen von Donald Trump, dass Syrien die USA nichts angehe, für möglich, dass die neue US-Regierung diese Truppen abzieht? Welche Folgen hätte das für Syrien und den gesamten Nahen Osten?

Das ist eine der vielen Unbekannten der Trump-Administration. In jedem Fall wäre ein Abzug der amerikanischen Truppen, ohne dass geregelt ist, wer deren Aufgaben übernimmt, ein fatales Signal. Ich kann nur hoffen, dass Trump letztendlich die Gefahr erkennt, die dadurch entstünde: verstärkte  terroristische  Anschläge nicht nur in Syrien, sondern möglicherweise auch weltweit.  Wie man mit den Islamisten umgeht, ist für uns Europäer und für den syrischen Staat eine sehr virulente Frage. Man kann sie ja nicht die nächsten 100 Jahre in einem Lager lassen.


Außer der Türkei gibt es noch eine ganze Menge anderer Player, die auf Syrien Druck ausüben – Israel, Iran, Russland. Ist da eine Stabilisierung überhaupt möglich? Israel  hat die Pufferzone auf dem Golan besetzt, der Iran als bisherige Schutzmacht Assads wird auch nicht tatenlos zusehen, wie ihr Einfluss schwindet.



Nach meinem Eindruck wollen die Syrer zusammenbleiben. Das ist anders als in Libyen, wo es immer Tendenzen des Auseinanderdriftens, der Konkurrenz zwischen Ost und West gab. Auch die Mehrheit der  Kurden will offenbar in einem syrischen Staat bleiben, möglicherweise mit einem Autonomiestatus. Ein Auseinanderdividieren des Landes wird damit schwierig. Außerdem sind die von Ihnen genannten Akteure in Syrien höchst unpopulär.  Iran und Russland gelten zu Recht als jahrelange Unterstützer des Assad-Regimes.  Die meisten sind froh, dass sie nicht mehr da sind.  Israel wurde nie als  positiver Faktor, sondern als Okkupant gesehen. Zumindest derzeit haben diese Akteure von außen daher keine Chance.  Das mag sich ändern, wenn interne Konflikte größer werden. Vieles hängt jetzt auch stark von Deutschland und der Europäischen Union ab, ob sie in den Augen der Syrer eine konstruktive Rolle spielen. Deswegen können wir Syrien auch nicht einfach sich selbst überlassen.

Russland hat zwei militärische Stützpunkte in Syrien, über deren Fortbestand es anscheinend mit den neuen Machthabern verhandelt. Wie stark war tatsächlich der Einfluss Moskaus, das den Sturz Assads geschehen ließ?

Die Rolle Russlands in Syrien war eigentlich immer groß, denn es war ein sozialistisches Bruderland. Deswegen hatte Syrien auch gute Beziehungen zur DDR. Die Baath Partei von Assad ist letztendlich der KPdSU und der SED nachempfunden.  Viele Syrer haben in Russland bzw. der damaligen Sowjetunion studiert. Es entstanden zahlreiche Ehen, viele Russen lebten in Syrien. Deswegen gibt es traditionell enge Kontakte. Die Unterstützung von Bashar al Assad hat Russland allerdings enorm viele Sympathien gekostet. Das Land wird seinen Einfluss nicht freiwillig aufgeben, aber jetzt wahrscheinlich sehr vorsichtig agieren, um ihn nicht völlig zu verlieren.  

Wer ist der größte Verlierer, der größte Gewinner nach diesem so überraschend schnellen Zusammenbruch des autoritären syrischen Regimes?

Die großen Verlierer sind Russland und der Iran, der große Gewinner ist Syrien, möglicherweise Israel und eventuell auch der Libanon.

Warum der Libanon?

Das Land wurde in den vergangenen Jahren immer mehr vom Iran und der Hisbollah dominiert. Letztere war ein Staat im Staate, die eigentliche Regierung kaum noch handlungsfähig. Die Unterstützung der Hisbollah durch den Iran wiederum wurde durch den Konflikt mit Israel genährt. Die Organisation ist nun stark geschwächt, ebenso wie der Iran, und es besteht die Chance, dass der Libanon dieses Vakuum nutzt und besonders im Süden wieder die volle Kontrolle übernimmt. Deswegen ist dieses Land für uns ein sehr wichtiger Partner, seine Stabilität wirkt sich auch auf Syrien aus. Auch die israelischen Truppen haben begonnen, sich aus dem Südlibanon zurückzuziehen. Allerdings muss die libanesische Armee auch in der Lage sein, nachzurücken. Sie ist jedoch schwach und braucht zusätzliche Waffen und Unterstützung. Wir Europäer, auch die Deutschen, müssen überlegen, wie wir sie stärken können. Wir werden uns auch am Wiederaufbau beteiligen müssen, damit es nicht der Iran tut. Die Menschen dort werden sich anschauen, wer ihnen hilft, und demjenigen werden sie danken.  


Kein Land des Nahen Ostens lässt sich offenbar isoliert betrachten. In der Region wird seit Jahrzehnten gekämpft, und man hat den Eindruck, das nur Waffengewalt als Mittel der Außenpolitik zählt. Könnte jetzt endlich die Stunde der Diplomatie wieder schlagen?  

Zumindest gibt es eine Chance dafür. Wir haben in der ganzen Region drei Konfliktfelder. Das eine ist die Territorialfrage rund um Israel, also wem gehört Gaza, wem die Westbank einschließlich Ost-Jerusalem, wem der Golan, was passiert mit den dortigen Bevölkerungen? Dann besteht der Konflikt des Iran mit den Golfstaaten,  der auch religiös bedingt ist - Schiiten versus Sunniten. Und es gibt einen gesellschaftspolitischen Kampf zwischen Islamisten, sehr stark islamisch geprägten Gruppierungen und Modernisten. Diese drei Konflikte laufen parallel. Die gesellschaftspolitische Debatte müssen diese Länder selber führen. Aber die geopolitischen Auseinandersetzungen interessieren natürlich auch uns Europäer . Deswegen ist ja Syrien so relevant, weil dort alle drei Konflikte wie unter einem Brennglas zusammentreffen.

Die syrische Übergangsregierung sagt, sie habe sich die Entwicklung im Irak, in Libyen und in Afghanistan in den letzten Jahren angeschaut, um die Fehler, die dort gemacht wurden, zu vermeiden. Welche Fehler sind das, die sich aus Ihrer Sicht bei der Neuordnung der Region nicht wiederholen sollten?

In Afghanistan war die Bevölkerung sehr viel konservativer als gedacht, sodass die modernen Einflüsse von außen nur von einem relativ kleinen Teil der Menschen mitgetragen wurden.  Außerdem standen Paschtunen, Tadschiken und der iranischstämmige Teil der Bevölkerung in einem schwierigen Verhältnis zueinander. Im Irak scheiterte nach dem Tod von Saddam Hussein der Versuch der Amerikaner, alle einzubinden, weil die Schiiten als größte Bevölkerungsgruppe ihren Platz suchten und zu wenig Rücksicht auf die anderen nahmen.  Und in Libyen existierte keine sichtbare Führungsfigur, die das Vakuum nach Gaddafi füllen konnte. In Syrien gibt es dagegen eine klare Führungsperson, die bisher erstaunlich souverän agiert. Ob sie es schafft , alle  Religionen und Ethnien zusammenzuführen, wird für die Zukunft des Landes eine Schlüsselfrage sein.



In Libyen haben sich auch die Europäer nicht mit Ruhm bekleckert. Sie konnten sich nicht einigen, welche der Gruppen sie nach dem Tod Gaddafis unterstützen sollten.  

Man hat zunächst die Libyer sich selbst überlassen, weil man nicht den Fehler aus dem Irak wiederholen wollte.  Der Ansatz scheiterte, weil die Gruppierungen nicht zusammenkamen. Deswegen versuchte man den Prozess von außen zu organisieren, durch die Vereinten Nationen, indem man eine gemeinsam anerkannte Regierung schuf. Das ist ebenfalls gescheitert, weil sich die übrigen Gruppierungen darauf nicht eingelassen haben.
Nach einer solchen Entwicklung sieht es in Syrien augenblicklich nicht aus, weil alle bislang zu erkennen geben, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich der Wahrung ihrer eigenen Interessen, bereit sind, einen Führungsanspruch von al Sharaa anzuerkennen. Ob das gelingt, wird sehr stark davon abhängen, wie geschickt er vorgeht.



Wie könnte Deutschland bzw. Europa genau vorgehen, um künftig mehr Einfluss im Nahen Osten zu gewinnen?


Wir müssen zuallererst mal akzeptieren, dass diese Region in unserem Interesse liegt und dass wir einen eigenen Gestaltungswillen haben. Bislang haben wir uns fast immer dort rausgehalten und andere machen lassen. Diese Erkenntnis muss sich vor allem in Deutschland durchsetzen. Wir müssen zudem Einfluss ausüben, der von den Syrern und der Region als positiv empfunden wird. Ich sage das bewusst so, weil der Einfluss der Amerikaner im Irak eben nicht als positiv angesehen wurde.  Und wie können wir Einfluss ausüben? Indem wir zunächst als Europa zusammen auftreten. Der gemeinsame Besuch der Außenminister Deutschlands und Frankreichs in Syrien war ein wichtiges Zeichen. Zudem sollte der Grad unserer Unterstützung auch vom Grad der politischen Entwicklung abhängen. Also Unterstützung nur, wenn getan wird, was die Mehrheit der Syrer will: Rechte für Minderheiten, religiöse Gruppen und Frauen. Und dann müssen wir natürlich dem Land dabei helfen, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Die Demokratie hat wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine Chance, wenn es zu einer wirtschaftlichen Verbesserung kommt.  


Die Geste des gemeinsamen Besuchs, also von Außenministerin Annalena Baerbock und ihrem Amtskollegen Jean-Noël Barrot, vor wenigen Tagen in Syrien ist allerdings ein wenig untergegangen in der öffentlichen Diskussion über nicht erfolgte Handschläge und die adäquate Kleidung der Außenministerin.

Absolut. Das ist ein sehr gutes Beispiel für ein möglicherweise fehlendes Verständnis für geopolitische Gesten in der deutschen Öffentlichkeit. Man neigt dazu, sich bei solchen Nebensächlichkeiten aufzuhalten, anstatt die großen geopolitischen Zusammenhänge herauszustellen.  


Müssen Diplomaten bei solchen Besuchen  nicht so etwas wie eine islamische Etikette beachten?  Also zum Beispiel in der Kleidung. Enge Jeans bei Frauen geht da eben nicht.

Ja, offensichtlich nicht. Aber man soll das jetzt auch nicht überbewerten. Auch der verweigerte Handschlag von al Sharaa war sicherlich eine Geste des Machthabers gegenüber der Außenministerin, die aus meiner Sicht unglücklich war. Aber entscheidend ist doch, wie er mit den Minderheiten umgeht und wie die Rolle der Frau in der Realität aussieht. Und die Geste Frankreichs und Deutschlands verdient es, viel mehr in den Vordergrund gestellt zu werden. Die EU wird ständig dafür kritisiert, dass sie die Dinge nicht hinbekommt. Jetzt machen wir etwas sehr schnell und sehr früh, und keiner springt darauf, weil das mit dem Handschlag oder der Kleidung einfacher zu erkennen ist.



Stichwort Wirtschaftshilfe. Läuft es am Ende nicht doch wieder darauf hinaus, dass die EU den Wiederaufbau bezahlt, aber ohne damit nennenswerten politischen Einfluss  zu gewinnen?  Schließlich hat die EU seit 2011 bereits 33 Milliarden Euro für die Unterstützung Syriens ausgegeben. Aber die politischen Prozesse bestimmen andere.  

Diese 33 Milliarden wurden ohne politische Bedingungen gezahlt. Ein Teil der EU – Unterstützung lief über UN–Organisationen in Damaskus. Nur so konnte man die Bewohner in dem Herrschaftsbereich erreichen. Dabei musste man inkaufnehmen, dass ein Teil der Lieferungen für das Regime abgezweigt wurde. Wir haben das nicht mit einer politischen Konsequenz verbunden, sondern im eigenen Interesse fortgesetzt, um die Anzahl der Flüchtlinge aus Syrien zu reduzieren. Jetzt werden wir aber darauf achten müssen, dass die Größe unseres Engagements mit der politischen Entwicklung Syriens einhergeht. Wir haben allerdings auch Interesse an einer Finanzierung der Stabilität, um die Flüchtlingsströme mehr kontrollieren zu können.



Habe ich Sie vorhin richtig verstanden, dass Europa im Zuge der Neuordnung der Region dem Libanon auch Waffen liefern sollte?

Ich kenne natürlich die Sensibilitäten Deutschlands in Bezug auf Waffenlieferungen. Aber wenn wir uns einmal die Situation nüchtern anschauen und wollen, dass die libanesische Armee im Süden tatsächlich einen Machtfaktor gegenüber der Hisbollah darstellt, wird das nicht nur mit Helmen sondern auch mit Waffen zu erreichen sein. Wir müssen uns dann mit der Frage befassen, ob auch deutsche Waffen geliefert werden sollten und ob wir damit die libanesische Armee gegenüber Israel stärken. Ob nun Deutschland diese Waffen liefert oder das im europäischen Kontext geschieht, in jedem Fall sollten wir uns dem nicht entgegenstellen. Wir unterstützen ja die libanesische Marine, aber man muss überlegen, ob wir da nicht auch weitergehen sollten. Wenn nicht, dann lassen wir ein Vakuum, in das der Iran hineinstößt.



Unter welchen Bedingungen sollten die westlichen Sanktionen gegen Syrien aufgehoben werden? Die Übergangsregierung wird schließlich von einer Organisation geführt, die immer noch als Terrororganisation gilt.

Die Beschränkungen sollten schrittweise gelockert werden, damit man der neuen Regierung immer wieder zeigen kann, in welche Richtung sie sich bewegen sollte. Syrien kann sich nur dann wirtschaftlich entwickeln, wenn das Land auch Waren einkaufen und Finanzierungen bekommen kann, wenn die Banken wieder Zahlungen nach Syrien leisten dürfen.  Wir müssen jetzt mitgestalten und dann unter Umständen auch in Kauf nehmen, dass Dinge vielleicht nicht so laufen, wie wir uns das vorstellen. Abwarten, bis die anderen alles erledigt haben und dann kritisieren – das wäre keine verantwortungsvolle Politik. Gerade in der Außenpolitik muss man bestimmte Dinge auch einmal ausprobieren.



Wann kann die diplomatische Vertretung Deutschlands in Damaskus wiedereröffnet werden?

Erstmal ist es eine Frage der Sicherheit. Allerdings ist Damaskus überhaupt nicht unsicher.
Dann muss man die Botschaft  vermutlich renovieren. Das dauert eine ganze Weile.  Einen Botschafter wird man in der Form auch gar nicht ernennen können, weil ein Botschafter sein Beglaubigungsschreiben einem Staatschef übergibt, den es noch nicht gibt.  Aber man kann anders diplomatische Präsenz zeigen, indem man Diplomaten aus Beirut, Amman, Ankara oder Istanbul immer wieder dorthin entsendet.  


Haben sie selber Ambitionen? Hat die Bundesregierung Sie als letzten deutschen Botschafter in Syrien auch gefragt?

Es gibt sicherlich Kontakte.  

Dr. Andreas Reinicke leitet seit 2022 das Deutsche Orient-Institut in Berlin. Er diente als letzter deutscher Botschafter in Syrien (2008 bis 2012). In seiner diplomatischen Laufbahn war der Jurist unter anderem Referatsleiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt und von 2014 bis 2020 Botschafter in Tunesien.