Wenn er mit seiner rauchigen Stimme die Weltlage erklärte, war ihm die Aufmerksamkeit gewiss. 100 Jahre Weisheit sprachen aus den Worten von Henry Kissinger, der selber mehrere Kriege erlebte und für mindestens einen selber mitverantwortlich war (Kambodscha). Der Altmeister der Diplomatie, nie ganz unumstritten aber doch bewundert in seiner Karriere als US-Spitzendiplomat, kam mir dieser Tage erneut in den Sinn, angesichts der erratischen Verhandlungen über den Frieden in der Ukraine. Und angesichts der Pläne von Donald Trump, die offenbar auf ein Einfrieren des Konflikts und eine Anerkennung russischer Gebietsgewinne hinauslaufen. Die 2014 annektierte Krim will Washington sogar juristisch anerkennen. Die Empörung über den Vorschlag ist nicht nur in der Ukraine, sondern auch im übrigen Europa groß. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lehnt eine Rückgabe der Schwarzmeerinsel, die Stalin 1954 der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik zuschlug, strikt ab.
Man erinnere sich: Kissinger plädierte schon 2014 für Kompromisse zwischen der Ukraine und Russland, die einen Krieg vielleicht hätten verhindern können. Die Ukraine solle auf einen Nato-Beitritt verzichten und neutral werden, Russland im Gegenzug auf die Annexion der Krim verzichten, dafür sollte die Halbinsel eine weitreichende Autonomie erhalten. Der Gedanke war klug, weil er die komplizierten politischen Verhältnisse vor Ort berücksichtigte: Das historisch besondere Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland sowie die Autonomiebestrebungen der Krim nach dem Zerfall der Sowjetunion, die allesamt an der ukrainischen Zentralregierung scheiterten. Keine Regierung wollte von einer Föderalisierung des Landes etwas wissen.
Beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2023 wiederholte Kissinger seine These, dass der Ukrainekrieg ohne Gebietsverzichte nicht zu beenden sei, und meinte damit vor allem die Krim. Dafür erntete er ebenso Entrüstung. Die Entwicklung in der Ukraine werde viel zu oft, argumentierte er damals, als Showdown dargestellt. „Der Testfall ist nicht absolute Zufriedenheit sondern ausbalancierte Unzufriedenheit.“
Warum die Erinnerung an den Weltpolitiker wichtig ist? Weil er auch die (historischen) Wurzeln von Konflikten im Blick hatte. Weil Außenpolitik für ihn die Kunst des Machbaren und nicht die des Wettbewerbs der Haltungen war. Und weil er langfristig denken konnte, weil er ein echter Stratege war. Diese Spezies scheint allerdings gänzlich ausgestorben – im Weißen Haus unter Trumps willkürlicher Führung sowieso, aber auch in Europa, in Deutschland. Stattdessen sind aus Wissenschaft und Politik die immer gleichen Empörungs- und Dämonisierungsmuster zu hören (Putin ist disruptiv, aggressiv, will die Zerstörung des Westens, überfällt demnächst ein Nato-Land), und die immer gleichen Forderungen nach Bewaffnung der Ukraine.
Die Diskussion über den größten Konflikt in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verschwindet nach wie vor im Klein-Klein. Konkrete und weitsichtige politische Ideen zur Lösung dieses Konflikts sind auch aus den Reihen der künftigen Bundesregierung nicht zu vernehmen. Diplomatie und Außenpolitik werden ausschließlich durch's Kanonenrohr betrachtet.
Aber weil das ja immer wieder gesagt werden muss: Es geht hier nicht darum, einen Krieg zu rechtfertigen, schon gar nicht Angriffe auf Zivilisten. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine war ein riesiger Tabubruch, und es bleibt Putins Krieg. Aber, wie schrieb Kissinger einst: „Der Test für die Politik ist nicht, wie etwas beginnt, sondern wie es endet. Wenn die Ukraine überleben und aufblühen soll, dann kann sie niemandes Vorposten sein. Nein, sie sollte eine Brücke (zwischen dem Osten und dem Westen) sein.“
Man kann nur hoffen, dass es dafür nicht zu spät ist.