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"Wir brauchen einen gerechten, tausendjährigen Frieden"

Der ehemalige ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, über rote Linien in Verhandlungen mit Russland und seinen neuen Job als Kiews Emissär bei den Vereinten Nationen in New York
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January 9, 2025
January 6, 2025
Ukrainische Mehrfach-Raketenwerfer feuert auf russische Positionen nahe Kreminna

Interview von Michael Backfisch

Berlin. In seiner Zeit als ukrainischer Botschafter in Deutschland mahnte Andrij Melnyk die Bundesregierung pausenlos, mehr und schneller Waffen an sein angegriffenes Land zu liefern. Ab November 2022 war er zunächst Vize-Außenminister und danach Botschafter in Brasilien. Künftig soll er die Ukraine bei den Vereinten Nationen in New York vertreten. diplo.news erreichte Melnyk per Videotelefonat in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia.

Rund um den designierten US-Präsidenten Donald Trump mehren sich die Signale: Amerika will den Krieg einfrieren und eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auf die lange Bank schieben. Wächst damit nicht der Druck auf Kiew, Gebiete aufzugeben?

Die Ukrainer wollen Frieden, aber nicht um jeden Preis. Eine knappe Mehrheit der Bevölkerung würde heute Verhandlungen befürworten. Es gibt also ein Mandat für diplomatische Bemühungen. Jeder Verhandlungsprozess sieht gewisse Zugeständnisse und Kompromisse vor. Nur: Einerseits ist Putin gar nicht bereit zu verhandeln, er strebt eine vollständige Kapitulation der Ukraine an. Und das ist inakzeptabel.  Andererseits gibt es für uns eine unverrückbare rote Linie. Wir werden mit unserem Staatsgebiet nicht handeln, wir sind ja nicht auf einem Viehmarkt. Ich kann mir daher auch im schlimmsten Albtraum nicht vorstellen, dass die Ukraine auf die besetzten Gebiete verzichten wird.

Auch in Europa wird der Ruf nach Friedensverhandlungen lauter. Nach Angaben des russischen Außenministers Sergej Lawrow hat Frankreich vertrauliche Gespräche über die Ukraine gefordert – unter Umgehung von Kiew. Hat sich der Wind gedreht?

Zuerst einmal: Wir wissen ja nicht, ob Lawrow wie immer wieder schamlos lügt oder Halbwahrheiten verbreitet, um Misstrauen zu säen und einen Keil zwischen die Ukraine und unsere französischen und europäischen Verbündeten zu treiben. Das ist eine bewährte Kriegstaktik der Russen. Es wäre trügerisch, jetzt einer weit verbreiteten Stimmung leichtfertig nachzugeben und um einen möglichst raschen Verhandlungsbeginn bei Putin buchstäblich zu betteln. Dies hieße, quasi vor dem Kreml Schlange zu stehen, um mit dem russischen Präsidenten als möglichem Vermittler wieder ins Gespräch zu kommen. Derartige Alleingänge wären brandgefährlich. Genauso wenig zielführend wäre es, in aller Öffentlichkeit darüber zu sinnieren, welche Kompromisse aus ukrainischer Sicht annehmbar erscheinen. Das kann nur hinter verschlossenen Türen ausdiskutiert werden. Klar ist: Eine Lösung über den Kopf der Ukrainer hinweg wird es nicht geben. Wenn man versuchen würde, einen langfristigen und gerechten Friedensvertrag zu erreichen, der die Sicherheit der Ukraine über Jahrzehnte und Jahrhunderte stahlbetonfest garantiert, müssten sich unsere amerikanischen und europäischen Verbündeten im Voraus so eng mit uns abstimmen, dass kein Blatt Papier dazwischen passt. Wir müssten eine gemeinsame Linie gegenüber Russland und möglicherweise auch China vertreten. Gleichzeitig sollten Waffenlieferungen massiv erhöht werden. Nur so, aus der Position der Stärke, kann man Putin zum Frieden zwingen.

Falls die Ukraine die Russen nicht vollständig zurückdrängen kann: Was wäre die zweitbeste Lösung für Ihr Land? Wo sehen Sie Anknüpfungspunkte für mögliche Verhandlungen mit Moskau?

Das ist eine sehr schwierige Frage für jeden Ukrainer. Denn im Moment haben die Russen über 27 Prozent unseres Staatsgebiets okkupiert. Wenn man das mit Deutschland vergleichen würde, wären die Fläche so groß wie die Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt zusammen. Würden die Deutschen darauf verzichten? Das glaube ich nicht. Es gibt derzeit weder in der Zivilgesellschaft noch in der Regierung der Ukraine einen Plan B, was passieren könnte, wenn die militärische Unterstützung unserer Partner versiegt und wir ganz allein mit dem Rücken zur Wand stehen. Wenn diese Diskussion eines Tages kommen sollte, werden unsere Handlungsoptionen mit Sicherheit nicht öffentlich besprochen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat allerdings mehrmals betont, dass dieser Angriffskrieg Russlands auch am Verhandlungstisch beendet werden könnte, wenn notwendige Voraussetzungen geschaffen würden. Putin lehnt dies ab, weil er sich im Donbass in der Offensive sieht. Die Russen werden erst dann bereit sein, ernsthaft zuv erhandeln, wenn es für Moskau militärisch nicht mehr vorangeht. Auch aus diesem Grund hoffen wir, dass die Amerikaner ihre Waffenlieferungen nicht reduzieren, sondern ausweiten werden.

Präsident Selenskyj tauscht 40 Botschafter aus – so viele wie noch nie. Haben die Diplomaten ihren Job nicht gut gemacht?

Es steht mir nicht zu, die Entscheidung meines Präsidenten zu kommentieren. Ganz bestimmt hat er dafür genug triftige Gründe. Das Kriegsgeschehen verändert sich ja rasant, genauso wie die Lage an der diplomatischen Front. Dies erfordert ständige Nachjustierung, auch in Bezug auf das Personal. Mein Präsident weiß, dass manchmal ein einziger Botschafter wahre Wunder bewirken kann, insbesondere in den wichtigsten Staaten, von deren Unterstützung unser Überleben abhängt.

Sie vertreten die Ukraine bald bei den Vereinten Nationen. Können die UN überhaupt etwas ausrichten, um den Krieg zu beenden?

Obwohl viele die UN gerne - und oft zurecht - kritisieren, bleiben die Vereinten Nationen die wichtigste universale Organisation, die die Menschheit etabliert hat. Und die UN-Charta von 1945 bleibt bis heute eine Art Bibel fürinternationale Beziehungen. Das heißt, dass die darin verankerten Grundprinzipien wie die territoriale Integrität für die Weltgemeinschaft heilig sein müssen. Das Problem mit dem russischen Aggressionskrieg: Der UN-Sicherheitsrat, dem ‚die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens übertragen wurde, wird durch das Veto Russlands blockiert. Er kann keine völkerrechtlich bindenden robusten Maßnahmen bei solchen ‚Angriffshandlungen' treffen, um zum Beispiel Wirtschaftssanktionen oder Handelsembargos zu verhängen.

Die UN sind derzeit also nur ein Papiertiger?

Es gab in der Vergangenheit über 30 Fälle, bei denen der UN-Sicherheitsrat solche Sanktionsregime gegen Aggressorstaaten erfolgreich eingeführt hat - aber nicht nach der großflächigen Militärinvasion Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022. Deswegen sagt zum Beispiel Brasilien: Wir können die Sanktionen der EU, der USA sowie anderer Staaten wie Großbritannien oder Japan gegen Russland nicht unterstützen, weil sie nicht vom UN-Sicherheitsrat beschlossen werden. Das ist Zynismus pur. Hier werden doppelte Standards verwendet. Einerseits will Brasilien die Vereinten Nationen ‚reformieren‘ und beansprucht ja selbst den Sitz eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrates. Andererseits ist das Land in der jetzigen Pattsituation untätig, um gegen die blutigste Aggression in Europa nach 1945 aktiv vorzugehen. Als Ergebnis ist Brasilien der größte Importeur von russischem Diesel geworden. Es hilft damit Putins Kriegskasse zu füllen - mit über 10 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Mit diesem Geld kann Moskau anderthalb Monate Krieg gegen ukrainische Zivilisten führen.

Was wollen Sie konkret tun?

Es besteht ein riesiger Handlungsbedarf bei den UN. Auch ich habe in meiner neuen Funktion alle Hände voll zu tun. Statt des Sicherheitsrats spielt gerade die UN-Generalversammlung eine wichtige Rolle, um die russische Aggression zu verurteilen. Allerdings haben ihre Entscheidungen keine rechtsbindende Kraft. Während des Korea-Krieges von 1950 bis 1953 ist es immerhin gelungen, das Vetorecht der Sowjetunion, die damals die UN boykottierte, kreativ zu umgehen. Damals wurde die Entsendung von Friedenstruppen beschlossen. Auch heute müssen wir schauen, was zusammen mit unseren Verbündeten wie Deutschland machbar wäre, um neue Themen zu setzen. Dazu gehört auch, wie man die Vereinten Nationen reformieren und retten kann.

Der Globale Süden hat bislang nur mäßiges Interesse am Ukraine-Krieg gezeigt. Wie wollen Sie das in New York ändern?

Meine Aufgabe wird es unter anderem sein, einen smarten Weg zu finden, wie man den Globalen Süden enger einbinden und den Freundeskreis der Ukraine erweitern kann. Gleichzeitig werde ich klar die Tatsachen benennen: Jeder, der russisches Öl, Gas, Diesel oder Düngemittel importiert, finanziert indirekt Putins Angriffskrieg mit. Punkt! Vielleicht gelingt es in der UN-Generalversammlung, hier zumindest in Form einer politischen Verpflichtung Grenzen aufzuzeigen.

Was ist Ihre Einschätzung: Wie lange wird der Krieg noch dauern?

Ich persönlich habe die Hoffnung, dass dieser barbarische Krieg 2025 endet. Die Ukrainer sehnen sich nach Frieden. Wir brauchen aber einen gerechten, tausendjährigen Frieden, keine trügerische Waffenruhe, die so manchen vorschwebt. Wir brauchen einen sich auf die UN-Charta stützenden allumfassenden Friedensvertrag mit felsenfesten Sicherheitsgarantien. Nur er kann dafür sorgen, dass die Ukraine nie wieder angegriffen wird und dass sich nie wieder ein neuer Krieg mitten in Europa wiederholt.