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Kamala Harris zeigt mehr Biss – hat aber immer noch Schwächen

Analyse von Michael Backfisch
Autor:
Michael Backfisch
/
December 4, 2024
October 17, 2024
Kamala Harris lacht gerne. Im Interview in Fox News war ihr jedoch nicht immer zum Lachem zumute (Screenshot)

 

Ist das der erhoffte Befreiungsschlag? Bei ihrem ersten Interview mit dem erzkonservativen TV-Sender Fox News gab sich die demokratische US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris erstaunlich angriffslustig. Moderator Bret Baier versuchte immer wieder, die Konkurrentin des Republikaners Donald Trump aufs Glatteis zu locken, fiel ihr oft ins Wort. Beim Reizthema „illegale Migration" – einer der Schwachpunkte in der Regierungsbilanz von Präsident Joe Biden – konterte sie kühl: Hätte Trump ein parteiübergreifend zusammengestelltes Gesetz Anfang des Jahres nicht torpediert, gäbe es heute mehr Grenzschützer und weniger tödliches Fentanyl, das über Mexiko in die Vereinigten Staaten geschmuggelt wird.

Harris war in dem konfrontativ geführten Interview auf Draht. Einer der Kernsätze: „Meine Präsidentschaft wird keine Fortsetzung der Präsidentschaft von Joe Biden sein." Damit wollte die Demokratin den Generalvorwurf Trumps entkräften, dass sie nur für ein „Weiter so" stehe. Ihren Wettbewerber attackierte sie scharf. Etwa dessen Aussage, dass er gegen „Feinde im Inneren" notfalls die Nationalgarde oder das Militär einsetze.

Killerinstinkt vermisst

Der offensive Stil, den Harris bei Fox News zeigte, war bitter notwendig. Bislang galt sie als zu zaghaft, weil sie sich zunächst scheute, Interviews zu geben. Als sie sich dann doch dazu durchrang, mäanderte sie gelegentlich in ihren Antworten, war häufig nicht klar genug. James Carville, der Wahlkampfberater von Bill Clinton, schrieb den Harris-Leuten daher ins Stammbuch: „Sie müssen aggressiver werden." Er vermisse im Wahlkampf der Vizepräsidentin den „Killerinstinkt".

Tatsächlich sieht es derzeit nicht gut aus für die Demokratin. Der Schwung ist weg, die ansteckende Welle der Leichtigkeit passé. Beim Nominierungsparteitag im August präsentierte sich Harris noch als strahlende Senkrechtstarterin. Jugendlicher Elan, positive Botschaft: Plötzlich war die Biden-Depression der Demokraten wie weggeblasen. Harris legte in den Meinungsumfragen schnell zu. Nicht nur auf nationaler Ebene, auch in den wahlentscheidenden „swing states" überholte sie den lange Zeit führenden Trump.

Doch rund zweieinhalb Wochen vor der Präsidentschaftswahl hat sich die Stimmung gedreht. Laut der amerikanischen Nachrichten-Website realclearpolitics verfügt Trump in den „swing states" Pennsylvania, Michigan, Arizona, Nevada, Georgia und North Carolina über einen knappen Vorsprung. Lediglich in Wisconsin hat Harris ein hauchdünnes Plus. Das muss noch nichts heißen. Aber der erhoffte Auftrieb für die Demokratin ist ausgeblieben.

Einer von mehreren Gründen hierfür: Harris gelingt es nicht, zwei wichtige Stammwählergruppen ihrer Partei voll zumobilisieren: Schwarze und Latinos. Nach einer Umfrage von New York Times und Siena College liegt Harris bei schwarzen Wählern mit 78 zu 15 Prozent vor Trump, bei Latinos mit 56 zu 37 Prozent.

Zustimmung schwindet

Doch die Zustimmung schwindet. Vor vier Jahren hatte Joe Biden noch die Unterstützung von 92 Prozent der Schwarzen und von 63 Prozent der Latinos. Vor allem schwarze Männer gehen Harris von der Fahne. Derzeit wollen nur 70 Prozent für Harris stimmen, bei Biden waren es 2020 noch 85 Prozent. Trump hat in den traditionell demokratischen Wählersegmenten aufgeholt.

Angesichts der völkisch aufgeladenen Sprache Trumps ist das Ergebnis erstaunlich. Der Republikaner wettert immer aggressiver gegen Migranten, die das „Blut des Landes vergiften". Aber Trump schadet diese Holzhammer-Rhetorik nicht. Im Gegenteil. In wichtigen Politikbereichen stößt er mit seinen Thesen auf Resonanz. Laut Umfragen befürworten 43 Prozent der Latinos und 40 Prozent der Schwarzen den Bau einer Mauer entlang der mexikanischen Grenze. Die Hälfte beider Wählergruppen beklagt, dass die Kriminalität in großen Städten außer Kontrolle geraten sei.

Aber auch in der Außenpolitik kann Trump punkten. Eine Mehrheit der Schwarzen und Latinos sympathisiert mit seinem „America-First"-Kurs. Tenor: Die Regierung sollte sich weniger um die Krisen der Welt kümmern und sich mehr auf die Probleme zu Hause konzentrieren.

Auch in der Wirtschaft – für die US-Bürger Thema Nummer eins im Wahlkampf – sehen viele Defizite. Nur 20 Prozent der Latinos und 26 Prozent der Schwarzen bezeichnen die gegenwärtige ökonomische Lage als gut oder hervorragend. Mehr als die Hälfte beider Wählergruppen geben an, sich wegen der Preise beim Kauf von Lebensmitteln oft eingeschränkt zu haben.

Gefühlte Inflation versus Statistik

Zwar ist die Inflationsrate in der Biden-Präsidentschaft von 9,1 Prozent im Juni 2022 auf unter drei Prozent gesunken. Doch Statistik und subjektive Wahrnehmung klaffen auseinander. „Für Harris gibt es nun ein Problem: Die gefühlte Inflation der Amerikanerinnen und Amerikaner ist nicht identisch mit den wirtschaftlichen Makro-Daten. Waren, die dauernd gekauft werden, tragen viel mehr zum subjektiven Inflationseindruck bei als die Einkäufe dauerhafter Güter wie etwa Autos oder Möbel", sagt der Volkswirtschaftler Welf Werner, Direktor des Heideberg Center for American Studies (HCA) der Uni Heidelberg. Besonders Lebensmittel seien besonders schnell besonders teuer geworden. „Für die Menschen zählt: Ich zahle heute zum Beispiel für eine Gurke das Doppelte wie vor vier Jahren."

Besonders sensibel reagieren die Bürger der Vielfahrernation Amerika auf die Benzinpreise. So mussten im Juli 2024 im landesweiten Durchschnitt umgerechnet rund 92 US-Cent pro Liter bezahlt werden .Im Sommer 2019 betrug der Preis 71 Cent, im Sommer 2020 sogar nur 58 Cent. Die späten Trump-Jahre verbinden viele US-Wähler mit moderaten Spritkosten. Das im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit noch immer recht hohe Preis-Plateau legen viele Amerikaner Biden zur Last. Und Harris.

Harris hat es bis heute nicht verstanden, ihr Konzept für Wohlstand auf die Lebenswirklichkeit der US-Bürger herunterzubrechen. Das größte Manko der Demokratin ist aber vermutlich das Fehlen einer Vision, wohin sie das Land führen will.  Zu oft hat sie ihre Politik als Aufzählung von Einzelmaßnahmen verkauft. Trump tritt hingegen als Systemsprenger auf, der mit einem Feuerritt „Veränderung" herbeizaubern will.

Harris hat seit dem Rückzug Bidens aus dem Präsidentschaftsrennen eine Lernkurve hingelegt. Sie hat den Rollenwechsel von der Vizepräsidentin als de-facto-Biden-Appendix zur selbstständigen Akteurin vollzogen. Aber selbst wenn sie noch besser wird ,ist völlig offen, ob das reicht. Am 5. November wird es jedenfalls sehr knapp.

Michael Backfisch (Foto: Reto Klar)

Michael Backfisch ist Autor für internationale Politik. Er war von 2015 bis 2023 Auslandschef der Funke Zentralredaktion in Berlin. Zuvor war er stellvertretender Chefredakteur des Handelsblatts. Für die Wirtschaftszeitung arbeitete er als USA-Korrespondent in Washington und als Nahost-Korrespondent in Dubai.