Von Michael Backfisch, Berlin
Es ist Zeit für schmerzhafte Wahrheiten. Nach dem wutgeprägten Showdown zwischen US-Präsident Donald Trump und dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj ist klar: Der Chef des Weißen Hauses will den Ukraine-Krieg nach der Zewa-Wisch-und-Weg-Methode beenden. Erst Waffenstillstand, dann Friedensabkommen, lautet seine Devise. Um den russischen Präsidenten Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zu bringen, erfüllt er praktisch alle Bedingungen Moskaus.
Trumps Vision: Ein „Deal“ zwischen den nuklearen Supermächten und Ölgiganten Amerika und Russland wäre der Startschuss für einen neuen geopolitischen Schulterschluss, der Türen für Handel und Investitionen öffnet. Es ist der Traum des früheren New Yorker Immobilien-Tycoons, der die Gesetze seiner damaligen Branche auf die internationale Politik übertragen will.
Trump befördert eine Zeitenwende hin zu einer Weltordnung, in der autoritäre Regime dominieren. Amerika verabschiedet sich vom Westen als Allianz demokratischer Staaten. In der Verachtung Europas klingt Trump wie Putin. Doch Trumps Erwartung, dass Putin an einer Waffenruhe oder einem Abkommen mit der Ukraine interessiert sein könnte, ist die naive Hoffnung eines größenwahnsinnigen Möchtegern-Friedensstifters. Der Kremlchef will die Ukraine unterwerfen. Ein pro-westliches, wirtschaftlich prosperierendes Land in der Nachbarschaft könnte auch für die Bürger seines Landes attraktiv sein. In einem im Juli 2021 veröffentlichen Essay hat Putin glasklar formuliert, dass Russen und Ukrainer „ein Volk“ seien. Will heißen: Die Ukraine hat kein Existenzrecht.
Doch Putins Maximal-Strategie reicht noch weiter. Er will die 1999 begonnene Nato-Osterweiterung rückgängig machen. Amerikanische Truppen und Atomwaffen sollen vom Kontinent abgezogen werden. Ziel ist eine große russische Einflusszone in Europa.
Putin befindet sich auf einem Rachefeldzug gegen den Westen. Zusammen mit Chinas Staatschef Xi Jinping arbeitet er an einer multipolaren Welt, in der Moskau und Peking wichtige Kraftzentren bilden – mit starker Ausstrahlung auch auf den „globalen Süden“. Sie haben nun unverhofft einen neuen Helfer: Donald Trump.
Für Europa ist die Lage extrem ernst. Wenn Amerika als ultimativer Sicherheitsgarant ausfällt, müssen die Europäer versuchen, die Lücke zu schließen. Und zwar schnell. Es bedarf einer Koalition der Willigen rund um Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, Italien, die baltischen Staaten und die Skandinavier.
Dieser harte Kern der EU plus Großbritannien muss sich unverzüglich politisch organisieren. Vor allem in militärischer Hinsicht stehen die Europäer vor gewaltigen Aufgaben. Putin hat die russische Wirtschaft auf Kriegsproduktion getrimmt. Sollte er die Ukraine erobern, wird er seine imperialen Ambitionen auf Nato-Territorium ausdehnen.
Die Europäer müssen gigantische Summen für das Militär lockermachen, wollen sie Putin wirklich abschrecken. Der Vorstoß von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, 800 Milliarden Euro zur Aufrüstung Europas und Unterstützung Kiews zu mobilisieren, ist ein starkes Signal an Moskau. Auf dem EU-Sondergipfel an diesem Donnerstag müssen weitere Schritte erfolgen. Dazu gehört auch die Rüstungsbeschaffung, die zentral koordiniert und nicht von jedem Land national gesteuert werden sollte.
Da Trump zum Risikofaktor geworden ist, darf auch die Ausweitung des Atomschirms der Franzosen und der Briten auf Europa kein Tabu sein. Der disruptive Kurs des US-Präsidenten schafft Chaos. Er bietet aber auch Chancen. Europa findet in der Stunde der Not zu neuer Stärke und Unabhängigkeit – oder es wird zum Spielball der Großmächte. Es wäre Europas Untergang.