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Das große Zittern

Viele Länder Lateinamerikas hoffen bei der US-Wahl auf Kamala Harris, anarcholiberale und autoritäre Staatschefs setzen auf Donald Trump. Die schwächelnden Ökonomien sind auf den reichen Nachbarn im Norden angewiesen. Ein Überblick
Autor:
Andreas Fink, Buenos Aires
/
December 17, 2024
November 4, 2024
Kamala Harris besucht während des Wahlkampfes die Grenze zu Mexiko (Foto: Harris, x.com)

Schicksalswahl, historische Wahl, Zeitenwende. Die Bezeichnungen sind dramatisch, der Countdown läuft, und die Nervosität vor der US-Wahl an diesem Dienstag wächst in aller Welt – ganz besonders in den Ländern südlich des Rio Grande. Denn von der größten Volkswirtschaft der Welt hängen die schwächelnden Ökonomien Lateinamerikas entscheidend ab. Die Enge des Rennens, aber auch die teils großen ideologischen und wirtschaftspolitischen Unterschiede zwischen Kamala Harris und Donald Trump zwingen Regierungen und Wirtschaftsführer südlich des Rio Grande zum Entwurf von doppelten Szenarien.

 

Sollte sich die Demokratin Harris durchsetzen, würde sich wohl kaum Entscheidendes ändern an der bisherigen Zusammenarbeit mit den Regierungen in der Region. Für die einen mag das eine schlechte, für andere eine gute Nachricht sein. Ihre Partei hat dem oft als „Hinterhof“ beschriebenen Raum seit Jahren wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was den Vormarsch Chinas, Russlands und des Iran zumindest erleichtert hat. Auch Trumps Interesse an Lateinamerika, das im vergangenen Jahrzehnt noch langsamer wuchs als Afrika, ist allenfalls auf einzelne Bereiche beschränkt, die vor allem mit innenpolitischen oder wirtschaftlichen Fragen in den USA zu tun haben. Extrem verkürzt ließe sich sagen: Trump will aus dem Süden Rohstoffe, aber keine Migranten. Und er will - wie auch die Demokraten - einen chinesischen Vormarsch zwar verhindern, aber dafür nicht groß investieren.

 

Trump dürfte sich eher mit lokalen Eliten und antidemokratischen Regimen arrangieren, wenn diese etwas anzubieten haben, das ihm oder den USA nutzt. Eine Harris-Administration würde wohl auch weiterhin die Einhaltung demokratischer Spielregeln einfordern, Regierende mit offenkundigen Defiziten weitgehend meiden und korruptionsverdächtige Politiker mit Embargos, Einreiseverboten und Kontosperrungen belegen. Das betrifft die Regime in Venezuela und Nicaragua, und die rechte Autokratie in El Salvador. Aber auch Politiker und Staatsdiener aus Ländern, die unter dem Verdacht stehen, Schmuggel, Geldwäsche und Drogenanbau zu begünstigen (wie Ecuador, Bolivien, Peru oder Paraguay), müssen Sanktionen befürchten.

 

Die neue Regierungschefin Mexikos, Claudia Sheinbaum,  hat bei den Wahlen im Juni überzeugende Mehrheiten für ihre linke Morena-Partei eingefahren und ist nun die Regierungschefin mit dem größten parlamentarischen Rückhalt in ganz Amerika. Sollte Trump am 5. November gewinnen, wird sie diesen brauchen.  Denn er drohte im Wahlkampf, mexikanische Drogenlabore zu bombardieren und Importe aus Mexiko mit hohen Zöllen zu belasten. „Das können 100 Prozent sein oder 200 Prozent, ist mir ganz egal. Das Ziel ist, dass einfach kein Auto von dort mehr ins Land kommt“, erklärte er. Solche Zölle wären unter der herrschenden Gesetzgebung freilich unmöglich, denn Mexiko ist Mitglied der Freihandelszone USMCA (USA-Mexiko-Kanada). Allerdings stehen 2026 turnusgemäß Verhandlungen über den Handelspakt an – sie dürften mit Trump extrem schwierig werden. Der Republikaner will verhindern, dass chinesische und europäische Konzerne neue Fabriken in grenznahen Industriegebieten Mexikos und in Kanada bauen, um so zollfrei auf den US-Markt zu gelangen.  

Zudem hat Trump seinen Wählern versprochen, Millionen illegale Migranten auszuweisen. Die meisten stammen aus Mexiko, Mittelamerika und Venezuela. Klar ist: Keine Regierung in der Region könnte derart viele Abgeschobene adhoc integrieren. Vor allem die Venezolaner dürften ihr Heil in anderen Staaten Lateinamerikas suchen, aber dort leben bereits mehr als 6,5 Millionen Landsleute, teilweise unter erheblichen Schwierigkeiten für die Gastländer. In Chile, Peru und Kolumbien hat sich das venezolanische Syndikat „Tren de Aragua“ ausgebreitet, das die Hilfslosigkeit der Vertriebenen brutal ausnutzt - mit Schutzgelderpressungen, Prostitution und Ausbeutung. Sollte Trump tatsächlich weitere Millionen Menschen ausweisen, würde er damit unweigerlich ganz Lateinamerika destabilisieren. Den Volkswirtschaften ihrer Heimatländer entfielen auch die remesas. So heißen in Lateinamerika die Überweisungen von Ausgewanderten an ihre Angehörigen zu Hause. Länder wie Honduras, El Salvador oder Venezuela halten ihre Wirtschaften nur mit Hilfe dieser Transfers irgendwie am Laufen.

 
Sheinbaums Vorgänger und Mentor Andrés Manuel López Obrador hatte es geschafft, den Drohungen während der ersten Trump-Präsidentschaft zu trotzen und 2020 das Freihandelsabkommen auszuhandeln. Mexiko und die Morena-Partei kennen Trump gut, und sie haben für den Fall seiner Wahl wohl auch personell vorgesorgt. Im vorigen Jahr hat sich Mexiko freilich angestrengt, Trump den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Zahl der Flüchtlinge, die US-Grenzschützer aufgegriffen haben, ging seit Januar um 77 Prozent zurück, weil Mexiko mehrere Kontrolllinien aktiviert und Migranten aus dem Norden an die Südgrenze zurück verfrachtet hat. Dies sei, so kommentierte das US-Magazin Newsweek, wohl die größte ausländische Intervention in den US-Wahlkampf überhaupt gewesen. Es ist nicht klar, ob Mexiko diese Filter aufrechterhält. Aber es ist durchaus anzunehmen, dass Sheinbaum das Thema in die Verhandlungen über das Handelsabkommen einbringen wird.

 

Je enger die wirtschaftlichen Bindungen, desto größer die Angst vor Trump

 

Sollte Harris gewinnen, können Mexikaner, aber auch Mittelamerikaner durchatmen, denn die Demokraten wollen die Strategie des „Nearshoring“ ausbauen. Die Biden-Regierung subventionierte bislang Hersteller wichtiger Technologien,  wenn sie aus China abzogen und in Mexiko nahe der US-Südgrenze neue Fabriken aufbauten. Dort sind die  Lohnkosten ähnlich niedrig wie in China, und es fallen keine Zollzahlungen an. Zudem wollen die Demokraten Bildungsprogramme in Mittelamerika verbessern. Aber sicher ist, dass auch sie wesentlich mehr Flüchtlinge ohne Asylverfahren abschieben werden. Generell gilt: Je enger die wirtschaftlichen Bindungen der Länder zu den USA sind, desto größer ist die Furcht vor Trump. Das betrifft insbesondere Mittelamerika und die Karibik.

 

Weiter südlich können einige Regierungen etwas entspannter nach Washington blicken. Der weltgrößte Kupfer-Produzent Chile etwa wird das begehrte Metall auch weiterhin in die USA verkaufen können. Brasilien, das schon seit Trumps ersten China-Zöllen 2018 zum Soja-Hauptlieferant für China geworden ist, wird im Rahmen des BRICS-Bündnisses (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) die Handelsschiene nach Fernost noch ausbauen, sollten sich die USA einigeln. Sicher dürfte sein, dass die gemäßigt linken Regierungschefs in Kolumbien, Chile und Brasilien einen Sieg von Harris vorziehen.

 

Ziemlich unverhohlen dagegen freut sich Argentiniens Präsident Javier Milei auf einen Sieg Trumps – obwohl er mit Biden und dem IWF intensiv kooperiert und das Land aus dem ideologischen Umfeld von Venezuela, Kuba, China und Russland geführt hat. Deutlicher als die meisten anderen – oft wachsweichen - Regierungen des Kontinents hat er sich Positionen der aktuellen US-Regierung zu eigen gemacht. So stellt er sich strikt hinter Israel und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Offiziell erklärte er, die US-Wahl werde seinen Pro-Washington-Kurs nicht beeinflussen. Das lässt Raum für Interpretation, aber im kleineren Rahmen offenbarte Milei mehrfach seine Präferenz für Trump, den er als sein Vorbild bezeichnet. Am Rande einer Konferenz rechtsliberaler Politiker in Washington in diesem Jahr wünschte Milei vor laufenden Kameras dem Republikaner einen Triumph.

 

Allerdings könnte ein Trump-Sieg auch Probleme für Argentinien bedeuten, warnen Geldmarktexperten wie der an der Wall Street einflussreiche Robin Brooks von der Brooking Foundation. Denn sollte der US-Präsident seine Zollgrenzen hochziehen, dürfte das den Dollar aufwerten, schätzt Brooks. Gleichzeitig könnte China den Renmimbi abwerten, um seine Produkte günstiger zu verkaufen. Das würde eine weltweite Abwertungsspirale in Gang setzen. Den wenigen Volkswirtschaften, die, wie Argentinien, ihre Währung immer noch an den Dollar koppeln, nähme das jegliche Konkurrenzfähigkeit. Milei bekäme Schwierigkeiten, die immer noch gültigen Devisenkontrollen aufzuheben, was jedoch für ausländische Investoren unabdingbar ist. Der Staatschef hofft offenbar darauf, dass Trump ihm einen neuen Kredit des Internationalen Währungsfonds verschafft.

 

Noch zwei andere Präsidenten Lateinamerikas bevorzugen einen republikanischen Sieg. Najib Bukele aus El Salvador, selbsternannter „coolster Diktator der Welt“, würde gerne mit Hilfe Trumps die Isolation seines Landes überwinden. Washington hat die Kontakte auf ein Minimum zurückgefahren, seitdem Menschenrechtsgruppen Folter und Rechtlosigkeit anprangern. Bukele regiert seit 2022 auf Basis eines Ausnahmezustands und  sperrte 80000 Menschen – zwei Prozent der Bevölkerung– ins Gefängnis. Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro, der stets predigt, alles Übel komme aus dem Norden, muss damit rechnen, von einer Harris-Administration weitgehend ausgeblendet und mit Embargos belegt zu werden, wenn er sich am 10.Januar nächsten Jahres die Amtsschärpe überstreift, die eigentlich sein Gegenkandidat Edmundo González Urrutia gewonnen hat. Von Trump sind solche moralischen Skrupel und Berührungsängste eher nicht bekannt. Er könnte womöglich zu Deals bereit sein, die beiden Seiten nützen. So sind an der US-Südküste fünf Raffinerien kaum ausgelastet, die vor Jahrzehnten für die Aufbereitung des außergewöhnlich schweren Venezuela-Öls gebaut wurden. Gleichzeitig wollen die USA jedoch größere Rohstoffreserven aufbauen, um Preissprünge wie nach dem Ukraine-Einmarsch zu verhindern. Wenn diese Reserven nicht aus dem chronisch heiklen mittleren Osten kommen, dann umso besser.