Suchen

diplo.news

news & views

diplo.news

"Als fairer Vermittler hat sich Donald Trump in atemberaubender Weise diskreditiert"

Nach dem Eklat im Weißen Haus warnt der Freiburger Historiker Jörn Leonhard vor einseitigen Konzessionen in den Verhandlungen zum Ukraine-Russlandkonflikt ebenso wie vor überzogenen Erwartungen an einen Friedensschluss und sagt, welche Lehren sich aus vergangenen Kriegen für die Gegenwart ziehen lassen
March 24, 2025
March 4, 2025

Interview von Gudrun Dometeit

Donald Trump und sein Vize J.D. Vance (re) überschütteten Präsident Wolodymyr Selensky (li.) vor laufenden Kameras mit Vorwürfen: Er sei undankbar, riskiere einen dritten Weltkrieg. Quelle: @WhiteHouse, x.com

Hat es zu irgendeinem Zeitpunkt aus Ihrer Sicht die Möglichkeit gegeben, den Ukrainekrieg früher zu beenden?


Das ist schwer zu beurteilen, weil wir derzeit und auf absehbare Zeit nicht über alle notwendigen Quellen verfügen. Ich würde trotzdem sagen, hätte Europa die Ukraine früher und konsequenter unterstützt,  hätte es eine bessere Chance gegeben, die militärische Logik zu durchbrechen und Russland zur Einsicht zu bringen, dass es seine Ziele auf dem Schlachtfeld nicht erreichen kann. Damit wäre eine politische Lösung näher gerückt. Aber das sind alles Konjunktive. Irgendwann jedoch wird es genau um diese Fragen gehen: An welchen Stellen ist vor allem Europa falsch abgebogen?

Sie meinen ausschließlich militärische Unterstützung …

Ja – denken wir nur daran, wie lange es von der Zusage von 5.000 Helmen bis zu den ersten deutschen Panzer-Lieferungen gedauert hat. Dazu monatelange Diskussionen über längst absehbare Munitionskrisen …  Europa hat nicht einmal das eingehalten, was es der Ukraine versprochen hat. Da sind Chancen verpasst worden.

Das ist ein häufig vorgebrachtes Argument. Gleichzeitig haben manche Militärs erklärt, dieser Krieg sei aufgrund der grundsätzlich unterschiedlichen Kräfteverhältnisse militärisch für die Ukraine nicht zu gewinnen, und eine stärkere Unterstützung führe nur zu einem längeren Abnutzungskrieg.

Ein Sieg aus der Sicht der Ukraine hätte ja keine Triumphparade in Moskau bedeutet, sondern die Verteidigung der politischen Souveränität und der territorialen Integrität des eigenen überfallenen Landes. Wer mit Blick auf Kräfteverhältnisse argumentiert, hätte dann die Ukraine zur Aufgabe auffordern müssen, und so ist es nach dem Beginn des russischen Angriffs ja auch geschehen.  Aber trotz der erdrückenden Überlegenheit hat das Land sich mit westlicher Unterstützung verteidigt, so dass Russland seine ursprünglichen Ziele auch nach drei Jahren nicht erreicht hat. Aber jetzt steht die Unterstützung des Westens zur Disposition, zumal die Vereinigten Staaten nach dem Eklat vom vergangenen Freitag auf Distanz gehen. Dabei ist eine halbherzige Unterstützung im Grunde die schlechteste Option, weil sie enorme Opfer fordert und am Ende trotzdem zu einer faktischen Niederlage führt, während der Aggressor am Ende durch Gewalt seine Kriegsziele erreicht. Das ist ein verheerendes Signal für andere Konflikte.

Offensichtlich ist US-Präsident Donald Trump der Auffassung, dass der richtige Zeitpunkt für Friedensverhandlungen gekommen ist. Bis Ostern will er ein Abkommen abschließen. Ist das realistisch, oder wird es lediglich ein Waffenstillstand sein, der sich in der Geschichte immer wieder nur als eine taktisch bedingte Pause vom Krieg erwiesen hat? Zudem hat er in aller Öffentlichkeit den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky bloßgestellt. Schadet er damit nicht seinen eigenen Friedensbemühungen?".

Russland hat durch die einseitigen Konzessionen der amerikanischen Führung schon jetzt drei entscheidende Kriegsziele erreicht – egal, was bei den Verhandlungen noch herauskommt.  Die USA erkennen die russische Eroberung der ukrainischen Territorien an. Zudem lehnen sie eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO ab, und sie akzeptieren, dass nur Moskau und Washington miteinander verhandeln, so dass die Ukraine nicht Subjekt der Unterredungen ist, sondern lediglich Objekt. Damit wird nicht nur das völkerrechtliche Grundprinzip von territorialer Integrität, sondern auch von staatlicher Souveränität grundlegend erschüttert.  Donald Trump und Wladimir Putin werden vermutlich ein Dokument ausarbeiten, in dem diese Aspekte festgehalten werden. Und die Einlassungen Trumps vom Freitag machen es extrem unwahrscheinlich, dass es weitergehende Sicherheitsgarantien für die Ukraine geben wird, während Russland schon jetzt europäische Truppen in der Ukraine ablehnt. So besteht die Gefahr, dass die Sicherheitslage in der Ukraine trotz einseitiger Konzessionen prekär bleibt.  Die Europäer werden jedenfalls auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, die USA als militärischen Akteur zu ersetzen. Aus historischen Beispielen wissen wir, dass in solchen Konstellationen ein prekärer Frieden droht, wie etwa in Korea. Russland könnte aus der Grenze zur Ukraine eine blutende Grenze machen oder an einer anderen Stelle des postsowjetischen Raumes die Verteidigungsbereitschaft des Westens erneut testen. Gleichzeitig wissen wir, dass eine gedemütigte unterlegene Gesellschaft auf Revision sinnt und versuchen wird, die nächste Gelegenheit zu nutzen, um verlorene Gebiete zurückzuerobern oder den Besatzer zu schwächen.  Als Historiker fällt es mir aus dieser Perspektive schwer, die Grundbedingungen für einen stabilen Frieden zu erkennen.

Es wäre vermutlich auch der erste Friedensvertrag, der in einer so kurzen Zeitspanne ausgehandelt wird …


Es gab in der Geschichte immer wieder solche inszenierten Momente der Vertragsunterzeichnung mit Handshake und Politikern, die dann verkündeten, es handele sich um die Besiegelung eines Friedens. Mit der politischen und militärischen Wirklichkeit muss das nichts zu tun haben.  

Der französische Präsident Emmanuel Macron versuchte Donald Trump davon zu überzeugen, die Ukraine wie auch die Europäer in die Verhandlungen einzubeziehen. Quelle: @WhiteHouse, x.com

Hätte ein solches Dokument überhaupt eine Bindungswirkung, wenn eine der beiden Kriegsparteien, in diesem Fall das Opfer der Aggression, von Verhandlungen ausgeschlossen wird?

Auch auf dem Weg zum Versailler Vertrag, der 1919 zwischen dem Deutschen Reich und den Siegern des Weltkriegs unterzeichnet wurde, vor allem Frankreich, Großbritannien, den USA und Italien, wurden die Besiegten nicht zu formellen Verhandlungen eingeladen, als die Sieger sich in Paris trafen, die Friedensverträge ausarbeiteten und dann die Unterlegenen ultimativ aufforderten, zu unterzeichnen. Anders war es beim Wiener Kongress 1814/15, als man das besiegte Frankreich bewusst einbezog.  Man habe nicht gegen die Franzosen gekämpft sondern gegen den Militärtyrann Napoleon. Ob ein inszenierter Frieden wirklich hält, weiß man erst im Nachhinein. US-Außenminister Henry Kissinger wusste schon bei der Annahme des Friedensnobelpreises 1973 nach dem Abschluss des Friedensabkommens mit Nordvietnam, dass es nur um eine Atempause gehen würde, in der man die US-Soldaten abziehen konnte, bevor Südvietnam vom Norden überrannt wurde. Was man jetzt als Frieden inszeniert, könnte bald Makulatur sein.  

In Bezug auf Trumps Agieren gegenüber Russland taucht häufig der Vergleich zum Münchner Abkommen von 1938 auf, als die europäischen Mächte die Annexion des Sudetenlands, das Teil der Tschechoslowakei gewesen war, durch Deutschland beschlossen. Die Führung der Tschechoslowakei erklärte sich damals einverstanden, um Opfer zu vermeiden. Macht die Analogie Sinn?


Vergleiche bedeuten nicht Gleichsetzung. Sie helfen, die Gegenwart besser zu verstehen, aber eben nicht im Sinne einer Blaupause. Im Blick auf das Münchner Abkommen würde ich Ihnen zunächst widersprechen, denn die tschechoslowakische Regierung sah sich angesichts der Konzessionsbereitschaft der britischen und französischen Regierung gegenüber Hitler schlicht gezwungen, ihre territoriale Integrität und Souveränität zu opfern. Es blieb nicht beim Sudetenland, wenige Monate später wurde die sogenannte „Rest-Tschechei“ liquidiert. Staatspräsident Emil Hacha wurde damals nach Berlin zitiert und physisch so unter Druck gesetzt, dass er das Dokument zitternd unterschrieb und einen Zusammenbruch erlitt. Das Signal von 1938/39 in Kombination mit vielen anderen roten Linien, die die deutsche Regierung seit 1936 überschritten hatte, ließ bei Hitler die Überzeugung reifen, die westlichen Demokratien würden die nach 1918 neubegründeten Staaten Ost- und Ostmitteleuropas in letzter Konsequenz nicht verteidigen. Und darin steckt bei allen Unterschieden auch eine Botschaft für die Gegenwart. Einen zur Aggression entschlossenen Angreifer durch einseitige Konzessionen zu beschwichtigen, kann dazu führen, dass er die nächste rote Linie in den Blick nimmt.


Wie kann man so etwas verhindern? Kissinger hat in schwierigen Situationen immerhin versucht, Konflikte durch eine Shuttle-Diplomatie zu lösen. Man hat aber den Eindruck, dass besonders im Ukrainekrieg Diplomatie ausgedient hat.


Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 begann die langfristige Professionalisierung der Diplomatie. Ihre Funktion bestand und besteht weiterhin darin, eine chronisch instabile Welt so gut wie möglich zu stabilisieren. Dazu müssen Diplomaten den Moment erkennen, in dem die Fortsetzung der militärischen Logik allein keine Antworten mehr bietet und man nach politischen Lösungen suchen kann.  Eine ihrer entscheidenden Aufgaben besteht darin, im Übergang zwischen Krieg und Frieden nach vertrauensbildenden Maßnahmen zu suchen, beispielsweise  durch einen Gefangenenaustausch, eine Pufferzone oder eine temporäre Waffenruhe im Vorfeld eines Waffenstillstandes. Diplomaten sind zudem Experten für Kommunikation und Netzwerkbildung. Ich bin auch sicher, dass man sich im Ukrainekrieg längst um solche Kommunikationskanäle hinter den Kulissen bemüht. Allerdings muss man angesichts des Eklats in der vorigen Woche die Handlungsspielräume der Europäer eher nüchtern einschätzen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Amerikaner Konflikte auf dem europäischen Kontinent gelöst oder die Initiative dazu ergriffen haben. US-Chefdiplomat Richard Holbrooke hat 1995 das Dayton-Abkommen zur Beendigung des Bosnienkrieges ausgehandelt. Wieso fällt es den Europäern offensichtlich so schwer, Probleme auf eigenem Terrain in den Griff zu bekommen?


Die Staaten Europas haben hervorragend ausgebildete Diplomaten, und es gibt wichtige Institutionen wie die OSZE. Aber von einer homogenen Außenpolitik Europas sind wir weit entfernt, und das gilt umso mehr für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Europa spricht eben nicht mit einer Stimme, denken Sie nur an die offen russlandfreundliche Politik Ungarns und der Slowakei. Zudem hat der geopolitische Stellenwert Europas langfristig abgenommen, zuerst nach 1945 im Zuge des Kalten Krieges der beiden Supermächte und der Dekolonialisierung. Seit der Jahrtausendwende kam der wirtschaftliche und politische Aufstieg Chinas und anderer Akteure hinzu, etwa Indiens, Brasiliens und Südafrikas. Außerdem setzte ein Großteil der politischen Eliten Europas nach dem Ende des Kalten Krieges auf eine Friedensdividende. Gerade in Deutschland, das sich als Frontstaat des Kalten Krieges begriff, konzentrierte man sich auf ein wohlfahrtsstaatliches Verständnis von Sicherheit, während der Gedanke der Landesverteidigung immer mehr zurücktrat. Das erklärt den Fokus auf Auslandsmissionen, die Abschaffung der Wehrpflicht und die strukturellen Ausrüstungsdefizite der Bundeswehr. Das Pazifizierungsmodell Europas, das die transatlantische Sicherheitsgarantie der USA voraussetzte, ist nun an seine Grenzen gelangt. Und obwohl sich die Umorientierung lange vor Trump ankündigte – wenn auch nicht in der dramatischen Zuspitzung wie jetzt – hat Europa darauf bis heute keine glaubwürdige Antwort gefunden. Auch Barack Obama hat den Europäern erklärt, die USA würden sich langfristig sehr viel stärker auf den Pazifik und die Auseinandersetzung mit China konzentrieren. Am Ende der ersten Präsidentschaft von Trump haben sich die Regierungen Europas darauf verlassen, dass dies eine Art historischer Betriebsunfall gewesen sei und mit einem neuen Präsidenten alles wieder ins gewohnte Gleis komme. Aber die USA werden nie wieder die alte transatlantische Macht sein, als die sie nach 1945 auftraten.


Sie weisen in Ihrem jüngsten Buch darauf hin, wie wichtig die genaue Kenntnis der Ursachen eines Krieges für die Art des Friedensschlusses ist. Diskutieren wir über die richtigen oder vollständigen Ursachen im Ukraine-Russlandkrieg? Wie stehen Sie zu dem Argument, die Ukraine verteidige auch die Freiheit Europas? Damit wurde der Konflikt von einer bilateralen zu einer internationalen Auseinandersetzung.

Die eindrucksvolle Dynamik der ukrainischen Zivilgesellschaft mit ihren Forderungen nach Selbstbestimmung und Demokratisierung haben sich lange vor dem Krieg entwickelt. Sie waren kein Argument, Amerikaner und Europäer in einen Krieg hineinzuziehen. Viel eher musste diese Entwicklung das autokratische Regime Russlands beunruhigen, weil in der unmittelbaren Nachbarschaft ein anderes politisches Entwicklungsmodell entstand. Im Übrigen gilt, dass man als Historiker ein abgewogenes Urteil über die Vorgeschichte des Ukrainekrieges erst fällen kann, wenn man alle möglichen Quellen kennt. Ohne die Aggression Russlands in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, gehört zu einer solchen Analyse auch die Frage, an welchen Stellen der Westen falsche Signale ausgesendet hat oder die subjektiv wahrgenommene Demütigung Russlands in ihren politischen Wirkungen unterschätzt hat.

Beschwichtigungstour: Großbritanniens Premier Keir Starmer besuchte Trump zwei Tage nach Macron in Washington. Quelle: @Keir_Starmer, x.com

Wenn Sie die Komplexität des Ukrainekrieges mit anderen Konflikten in der Geschichte vergleichen: Ist er besonders schwierig, weil so viele geopolitische Auswirkungen damit verbunden sind, zum Beispiel auf Chinas Politik gegenüber Taiwan?

In den Ukrainekrieg sind viele andere Konflikte eingewoben. Nicht nur wegen China, Iran oder der Türkei. In den Abstimmungen über UN-Resolutionen zum Ukrainekrieg wurde deutlich, wie stark alte Konflikte um das koloniale Erbe der Europäer weiterwirken. So argumentierten Staaten des Globalen Südens, dass man sich in Europa für Kriege in Asien oder Afrika viel weniger interessiere. Zudem geht es um Wirtschaftssanktionen, Energiefragen und einen Wertekonflikt, in dem Putin immer wieder auf die zivilisatorische Mission Russlands gegenüber einem in seinen Augen dekadenten Westen hinweist. In einer solchen Lage ist es die Aufgabe von Diplomatie, nüchtern zu kalkulieren, was ein Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen überhaupt leisten kann und was nicht. Wer nach einem Frieden sucht, sollte ein realistisches Erwartungsmanagement betreiben. Das kann auch bedeuten, den Status quo bei manchen Problemen zu akzeptieren und darauf zu setzen, ihn vielleicht erst in fünf oder zehn oder dreißig Jahren zu ändern. Bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 dominierte die Hoffnung, dass der Weltkrieg der „war to end all wars“ gewesen sei. Damit aber provozierten die Friedensmacher Erwartungen, die sich in der Realität nicht erfüllen ließen.


Sie haben die Problematik einseitiger Konzessionen zu Lasten der Ukraine betont. Es gibt aber auch Forderungen, Putin keinerlei Konzessionen zu machen. Gilt Gesichtswahrung nicht für alle Konfliktparteien? Der Zweite Weltkrieg war ja unter anderem eine Folge des von vielen Deutschen als demütigend angesehenen Friedensschlusses nach dem Ersten Weltkrieg.



Es ist völlig legitim, Konzessionen gegenüber Putin aufgrund seiner Kriegsverbrechen auszuschließen und darauf zu setzen, dass Russland zu einer Selbstkritik seiner neoimperialen Politik gelangt. Aber für eine solche Politik hätte man die Ukraine in die Lage versetzen müssen, sich wirksam zu verteidigen. Für eine solche Entwicklung gibt es kaum mehr eine Basis, nachdem die USA sich offen auf Russland zubewegen, Trump sogar die anti-ukrainische Rhetorik des Kreml übernimmt und die Ukraine zum Einlenken zwingen will.  Ganz anders argumentierte US-Präsident Woodrow Wilson 1917, der nicht mit autokratischen Monarchen verhandeln wollte. Für ihn setzten Friedensverhandlungen einen Regimewechsel und die Einrichtung demokratischer Regierungen voraus. Den Gegenpol zu solchen Positionen, die Frieden mit Regimewechseln verbinden, stellt die sogenannte „realistische Schule“ dar. Ihre Vertreter argumentieren primär mit konkreten Handlungsbedingungen und einzelstaatlichen Interessen. Es würde bedeuten, von einer pazifischen Ausrichtung der USA und einem künftigen Konflikt mit China auszugehen, so dass es jetzt für die USA darum gehen müsste, den Konflikt in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden und die Folgekosten den Europäern zu überlassen. Die Realisten würden argumentieren, die Annahme, man könne Russland in eine Situation wie Deutschland oder Japan nach 1945 zwingen, schlicht naiv sei. Es spricht viel dafür, dass solche Positionen nun die Oberhand gewinnen.



Gibt es überhaupt einen gerechten Frieden?

Historisch gab es mehr oder weniger gelungene Kompromisse, mehr oder weniger gesichtswahrend, aber nie völlig symmetrisch. Das Grundproblem kann man als Dilemma beschreiben: Die Erwartungen an das, was ein Frieden alles leisten soll, sind in der Neuzeit immer mehr gestiegen, während nach 1945 die Zahl von Kriegen abnimmt, die noch mit klassischen Friedensverträgen und der Bindewirkung des Völkerrechts enden. In der Antike war der Frieden primär die Abwesenheit militärischer, eskalierender physischer Gewalt.  Schon in der Spätantike beginnt bei Augustinus die Aufwertung, denn für ihn war der Frieden immer auch ein Ausdruck von Gottesnähe. Nach dem Dreißigjährigen Krieg steigt das Völkerrecht auf, im 19. Jahrhundert ergänzt um humanitäre Normen wie in den Genfer Konventionen und um das Völkerstrafrecht. Seit dem Ersten Weltkrieg rückte die Vorstellung in den Vordergrund, dass zur Friedenswahrung auch demokratische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit gehören. Ein weiteres Problem: Können moderne politische Regime Niederlagen überhaupt noch überleben? Weitgehende einseitige Konzessionen können nach einem langen Krieg schnell als Verrat an den Opfern erscheinen. Würde Präsident Wolodymyr Selensky sein Land mit einem demütigenden Frieden konfrontieren, müssten sich sich die Ukrainer fragen, ob das die vielen Opfer wert war. Ein solcher Frieden kann mit der Legitimationsfrage enden und ein besiegtes Land schnell destabilisieren .


Wenn Sie ein Szenario zur Beendigung des Ukrainekrieges entwickeln sollten, wie sähe das aus?  In welchem Verhältnis stünden dabei Diplomatie und militärische Stärke?



Die Geschichte zeigt, dass starke Vermittler mit einem robusten Mandat eine wichtige Rolle haben, wenn es um stabile Ausgänge aus einem Krieg geht. Ein solcher Vermittler, der bereit ist, zur Not auch militärisch einzugreifen, um die Bedingungen eines Waffenstillstandes oder eines Friedensabkommens abzusichern, erhöht die Wahrscheinlichkeit eines gelungenen Friedens. Vor allem dann, wenn die Vermittler weiterhin in der Region engagiert bleiben – wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Marshall-Plan für Europa. Oder wie jetzt die Anrainer im Nahen Osten, Saudi Arabien, Katar und Ägypten. Frieden ist kein Moment, sondern ein Prozess, der einen langen Atem braucht. Im Ukrainekonflikt sind solche starken Vermittler so nicht zu erkennen.  

Was ist denn Donald Trump Ihrer Meinung nach?


Er begreift die Diplomatie als ein weiteres Feld des Dealmaking – und der letzte Freitag hat gezeigt, dass er auf jede denkbare Disruption setzt, um seine Interessen durchzusetzen. Mit der über Jahrzehnte gewachsenen Rolle der USA als Vormacht einer westlichen Wertegemeinschaft hat das alles nichts mehr zu tun. Als fairer Vermittler hat er sich damit in atemberaubender Weise diskreditiert. Die Europäer müssen jetzt handeln, und das heißt, dass sie sich von den USA unabhängig machen und zugleich das sicherheitspolitische Vakuum füllen müssen, das schon jetzt in Europa besteht. Wenn die EU das nicht als Ganzes schafft, dann muss es eine Kerngruppe von Staaten geben, eine Koalition der Entschlossenen. Aber selbst wenn das gelingen sollte, bleibt das Problem einer Übergangsphase, in der die amerikanische technologische und waffentechnische Überlegenheit kaum zu kompensieren ist. Das alles spricht dafür, dass bei einem weitgehenden und baldigen Rückzug der USA die Ukraine zu großen Konzessionen gezwungen würde: also Abgabe von Territorium, verletzte Souveränität und ein nur sehr prekäres Sicherheitsversprechen. Als Folge müsste die Ukraine dann von den Europäern massiv aufgerüstet werden, um zu einer Art Israel Osteuropas zu werden und einen künftigen Angriff Russlands wirksam abzuschrecken.  Allerdings setzte die Abschreckungswirkung Israels seit 1945 immer eine Sicherheitsgarantie der USA voraus – diese aber wird es für die Ukraine nicht geben.


Wie sind die Aussichten der Ukraine?

Die Ukraine müsste jedenfalls in der Lage sein, auf einen brüchigen Waffenstillstand mit vielen lokalen Sollbruchstellen zu reagieren. Denn Russland braucht nicht die große Eskalation fortzusetzen, um den Nachbarn zu destabilisieren. Das können auch finanzierte Milizen sein, die hinter der Grenze Menschen entführen, oder ein Terroranschlag. Ohne Sicherheitszonen und zehntausende Soldaten können solche lokalen Krisen schnell wieder eskalieren. Eine solche Situation würde vermutlich zu neuen Flüchtlingswellen führen.

Das ist kein besonders optimistischer Ausblick.



Man sollte der Öffentlichkeit jetzt kommunizieren, dass sich nicht alle Dinge auf einmal lösen lassen, um nicht Erwartungen entstehen zu lassen, die sich beim besten Willen nicht erfüllen lassen.

Apropos Öffentlichkeit.  Welchen Einfluss haben die Medien auf die Dauer des Krieges oder die Art des Friedensschlusses? Trump hat den Streit mit Selensky ja ganz offensichtlich vor laufenden Kameras inszeniert.

Deren Bedeutung ist kaum hoch genug einzuschätzen. Nicht zuletzt deshalb, weil sich Politiker heutzutage mit den Ergebnissen ihrer Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen dem Votum der vielen Öffentlichkeiten stellen müssen – auch der sozialen Medien. Bei der Beendigung des Dreißigjährigen Krieges existierte ein geschützter Raum der Friedensmacher, bei dem sie sicher sein konnten, dass Verhandlungen nicht öffentlich wurden. Auf dem Wiener Kongress blieben die Fürsten und Diplomaten ebenfalls weitestgehend unter sich. In Paris 1919 verkündete man das Ende der Geheimdiplomatie, Hunderte von Journalisten waren akkreditiert. So entwickelte sich eine Praxis, die wir heute kennen:  Enthüllungen, die bewusste Einbeziehung der Presse, das Durchstechen von Informationen. US-Präsident Wilson ließ die Medien wissen, er sei kurz davor abzureisen, um so den Druck auf Frankreich zu erhöhen. Die Presse wurde über bewusst entwickelte Narrative zu einem eigenen Faktor in Friedensverhandlungen, auch weil der Durchbruch der Demokratie bedeutete, dass Politiker sich mit den Ergebnissen der Friedensverhandlungen Wahlen stellen mussten. Diese Konstellation hat den Medien im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung gegeben. Wir sind heute Zeitzeugen von praktisch jedem politischen Ereignis und können es sofort kommentieren. Das wiederum wirkt sich unmittelbar auf Politiker aus, die die Reaktionen auf ihre Position in ihr Verhalten einbeziehen. Es ist kein Zufall, dass Richard Holbrooke in Dayton die Verhandler auf einen Luftwaffenstützpunkt bringen ließ, um sie weitestgehend abzuschotten und den Kontakt zu Medien maximal einzuschränken, um eine Einigung zu erzwingen..  


Schadet die totale Öffentlichkeit eher der schnellen Friedenssuche?



Sie macht sie jedenfalls nicht leichter. Wilson erkannte auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 schnell die Gefahr, dass öffentliche Verhandlungen zu einem weitgehenden Kontrollverlust führen konnten. So reduzierte er die Zahl der Verhandler immer mehr, auch wenn es ihm die Kritik von Journalisten einbrachte, er agiere wie die Geheimdiplomaten des 19. Jahrhunderts. Zur Erfahrung seit Beginn des 20. Jahrhunderts gehört die mediale Dynamik, die fast immer die Erwartungen an einen Friedensschluss steigen lässt.    

Jörn Leonhard (Foto: Universität Freiburg)

Jörn Leonhard ist Professor für neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. . Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, 6. Aufl. 2020; Der überforderte Frieden.Versailles und die Welt 1918-1923, 2. Aufl. 2019; Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen, 2. Auf. 2024.