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Russische Irrationalität, russische Menschlichkeit

1252 Seiten über den sowjetischen Gulag in Sibirien - "Permafrost", das Werk des russischen Schriftstellers Viktor Remizov, ist auf Deutsch erschienen
March 27, 2025
February 27, 2025

Von Gudrun Dometeit

Viktor Remizov (M.) stellte sein Buch gemeinsam mit Übersetzerin Franziska Zwerg im korrespondenten.café vor. Links Moderator Ewald König (Quelle: Dodur/diplo.news)

Es ist selten in diesen Tagen, in Zeiten des Ukrainekrieges, dass das Werk eines russischen Schriftstellers auf dem deutschen Buchmarkt erscheint. Wenn, dann sind es meist  russlandkritische Sachbücher zu aktuellen Themen, geschrieben von Russen, die im westlichen Exil leben. Mit „Permafrost“ von Viktor Remizov hat der Europa Verlag nun ein über 1200 Seiten starkes, überaus dicht geschriebenes belletristisches Werk in deutscher Übersetzung herausgegeben. Der Roman spielt in den Jahren 1949 bis 1953 in der sibirischen Siedlung Jermakowo, wo Stalin mit Hilfe von bis zu 120 000 Gulag-Häftlingen ein so teures wie unsinniges Bauprojekt verfolgte – den Bau  einer 1500 Kilometer langen Eisenbahnstrecke zwischen dem Unterlauf des Jenissej und dem Nordural. Die „Stalin-Bahn“ ist ein Symbol des sowjetischen Totalitarismus. Nach dem Tod des Diktators 1953 wurde dieses wie andere gigantische Bauvorhaben aufgegeben. Der Roman erhielt 2021 in Russland den renommierten Literaturpreis „Bolschaja Kniga“ und ist, wie Remizov am Mittwoch im korrespondenten.café sagte, in Russland im fünften Jahr ein Bestseller.

 

Remizov, Geologe und über 20 Jahre lang Journalist, wertete für sein Mammutwerk Archive des Sacharow-Museums und der Organisation „Memorial“ aus, die zwar inzwischen in Moskau, aber nach seinen Worten in der sibirischen Stadt Krasnojarsk nicht verboten ist. „Memorial“ ist die älteste zivilgesellschaftliche Organisation in Russland, die sich der Aufklärung der Stalinschen Gewaltherrschaft und ihrer Folgen widmet, aber 2021 auf Beschluss des Obersten Gerichts aufgelöst wurde. Seine Quellen, aus denen er Anregungen für die Beschreibung der Schicksale von Gulag-Gefangenen schöpfte, seien, so Remizov, frei zugänglich gewesen. Manches habe ihn bei der Lektüre der Archivmaterialien besonders erschüttert, zum Beispiel die große Armut der Bauern vor Ort, denen es nicht erlaubt war, Sibirien zu verlassen. „Selbst im 17. Jahrhundert haben sie nicht so armselig gelebt wie unter den Kommunisten.“

 

Remizov nennt sein Oeuvre einen „sehr russischen Roman“, der irrationale, nicht nachvollziehbare Handlungsweisen thematisiere, die die Russen oft selber nicht verstünden. „Im Roman gibt es Menschen, die sich absolut nicht rational verhalten, die sich in Liebe zueinander opfern.“ Gerade darum ging es dem Autor aber: Zu zeigen, dass es selbst unter den unmenschlichsten, widrigsten Bedingungen möglich ist, sich menschlich und mitfühlend zu zeigen. Eine russische Literaturkritikerin nannte den Roman im Jahr seines Erscheinens sogar „das optimistischste Buch, das ich bisher gelesen habe“, obwohl er nicht mit einem Happyend unter den Hauptprotagonisten endet.

 

Sechs Jahre lang arbeitete der Autor an seinem Werk, die meiste Zeit an einem See in Finnland, „wo man garantiert nicht gestört wird“ - unterbrochen nur von vielen Reisen und Gesprächen vor Ort in Sibirien entlang des Jenissej, wo er einen über 90jährigen Gulag-Überlebenden und einen früheren Flusskapitän als Berater für sein Buch gewann. Remizov lebt jedoch bei Moskau, ist wie manch anderer Schriftsteller nicht ins Ausland emigriert.  Einige westliche Verlage lehnten es  – ohne Begründung, jedoch ganz offensichtlich  wegen der russischen Invasion in der Ukraine – ab, mit ihm zusammenzuarbeiten. „Aber in Russland gibt es praktisch niemanden, dem dieser Krieg gefällt“, sagt der 66jährige. „Wir alle sind nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen in dem Gedanken ‚alles, bloß kein Krieg‘.“ Wann er endet, auch Remizov weiß es nicht.

Viktor Remizov, Permafrost, 2025, Europa Verlag, übersetzt von Franziska Zwerg