Eine Europawahl mit vielfachen Verzerrungen: Eine Stimme in Malta ist bei der Europawahl zwölf Mal mehr wert als die Stimme eines Deutschen. Kleine Länder bekommen mehr Abgeordnete pro Einwohner als Deutschland. 350 Millionen sind wahlberechtigt, davon 66 Millionen in Deutschland.
Nicht jede Stimme hat das gleiche Gewicht, wenn die Unionsbürger in ein paar Wochen zur Europawahl gehen. Es gibt kein einheitliches Wahlsystem, sondern einen Flickenteppich von 27 Systemen. Das hat Unwuchten zur Folge – bis hin zur Frage, ob die Deutschen künftig an Donnerstagen statt an Sonntagen wählen sollen.
Wer glaubt, für die Wahl zum Europaparlament gebe es ein einheitliches europäisches System und jede Stimme sei gleich viel wert, der irrt. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Wahl beruht auf einem Flickenteppich aus vielen unterschiedlichen nationalen Systemen. Dadurch hat die Stimme des einen Unionsbürgers anderen Wert und anderes Gewicht als die Stimme eines Wählers aus einem anderen Land.
Die unterschiedliche Gewichtung beginnt bei der Frage, ob es eine Sperrklausel gibt oder nicht, und wenn ja, wie hoch die Hürde ist, und geht bis zur Zahl der Abgeordneten, die ein Land ins Parlament entsenden darf. Es gibt eine lange Liste der Unterschiede in den Wahlsystemen der einzelnen EU-Länder.
Ein außerordentlich großer Unterschied geht auf die unterschiedlichen Sperrklauseln zurück. Es gibt unter den 27 EU-Länder Staaten mit und ohne Sperrklauseln. Und wo es solche Hürden gibt, sind sie unterschiedlich hoch. Gar keine Sperrklausel haben Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Großbritannien, Irland, Luxemburg, Malta, Niederlande, Portugal, Slowenien, Spanien – und auch Deutschland.
Deutschland hatte bei der Europawahl früher einmal eine Fünf-Prozent-Hürde, die das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig befand, worauf eine Drei-Prozent-Klausel kam, die im Februar 2014 vom Bundesverfassungsgericht ebenfalls einkassiert wurde. Ein Urteil, das nur bei den Miniparteien, die nun ins Europäische Parlament kommen können, Freude, sonst aber durchwegs Entsetzen ausgelöst hat. Ergebnis ist, dass eine Vielzahl von Parteien und Gruppierungen, darunter auch chancenlose, antritt. Bei der Europawahl 2029 dürfte Deutschland eine Zwei-Prozent-Klausel einführen.
Und wo es Sperrklauseln gibt, sind sie verschieden: Frankreich, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Tschechien und Ungarn haben eine Fünf-Prozent-Klausel; die Italiener, Österreicher und Schweden haben eine Vier-Prozent-Hürde; Griechenland wendet eine Drei-Prozent-Klausel an; und Zypern sticht mit einer 1,8-Prozent-Klausel heraus.
Die wichtigste Stimmenunwucht geht auf die Zahl der Abgeordneten zurück, die jedes Land ins Europaparlament entsenden darf. Bei der Zuteilung der insgesamt 720 Abgeordneten fehlt jede Verhältnismäßigkeit. Deutschland stehen mit 82 Millionen Einwohnern nur 96 Abgeordnete zu, Kleinstaaten wie Malta oder Zypern sechs.
Das heißt, dass ein deutscher EU-Abgeordneter sehr viel mehr Einwohner vertritt als ein maltesischer oder zypriotischer EU-Parlamentarier. In Zahlen: Ein deutscher Abgeordneter vertritt 850.000 Bürger, ein maltesischer Abgeordneter nur 65.000.
Der Fachausdruck für das ausgeklügelte System ist: degressive Proportionalität. Dieser Grundsatz billigt den kleinen Staaten mehr Abgeordnete pro Einwohner zu als den größeren. Sonst dürften einige Länder eigentlich nur mit einem halben Abgeordneten dabei sein.
Und selbst bei zwei oder drei Vertretern wäre es nicht möglich, die Parteienlandschaft abzubilden. Dass die kleineren Länder in der Relation besser dastehen als die großen, ist aber nichts Ungewöhnliches. Deutschland kennt das Prinzip auch auf nationaler Ebene: Im Bundesrat sind die kleinen Bundesländer ebenfalls relativ besser repräsentiert als große Bundesländer.
Nur in Österreich waren bisher schon 16-Jährige wahlberechtigt. Bei dieser Europawahl ist das erstmals auch in Deutschland der Fall. Im Rest von Europa ist man mit 18 wahlberechtigt.
Auch beim Alter der Kandidaten gibt es große Unterschiede. Mit 18 Jahren kann man in folgenden Ländern kandidieren: Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Kroatien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Slowenien, Spanien und Ungarn.
Mit 21 Jahren kann man kandidieren in Belgien, Bulgarien, Estland, Irland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei und Tschechien. Mit 23 Jahren kann man sich in Rumänien aufstellen lassen. Und wer in Griechenland, Italien oder Zypern kandidieren will, muss sogar mindestens 25 Jahre alt sein.
Auch der Wahltag ist nicht überall gleich. Er streckt sich über vier Tage (diesmal von 6. bis 9. Juni 2024) und richtet sich nach den jeweiligen Wahltraditionen des Landes. So wählen Niederländer an Donnerstagen, andere an Samstagen, wieder andere (Belgier, Deutsche, Luxemburger und Österreicher) immer an Sonntagen. Das bedeutet, dass manche Wähler etwas länger Zeit zum Nachdenken haben oder sogar von aktuellen Ereignissen beeinflusst werden können.
Auch hier gibt es große Unterschiede zwischen den EU-Ländern, was das Ergebnis unterschiedlich gewichten kann. Wahlpflicht besteht nur in Belgien, Griechenland, Luxemburg und Zypern. Wo keine Wahlpflicht besteht, ist die Wahlbeteiligung niedriger.
Es ist Sache jedes Mitgliedslandes, ob es ein offenes oder ein geschlossenes Listensystem verwendet. Beim offenen Listensystem können die Wähler ihre Präferenzen für einen Kandidaten auf der Liste angeben. Das geschieht in Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Polen, Schweden, der Slowakei und Zypern.
Anders beim geschlossenen Listensystem, wo die Parteien die Rangfolge der Kandidaten selbst festlegen und die Wähler ihre Stimme nur der Partei geben können (Deutschland, Frankreich, Griechenland, Portugal, Rumänien, Spanien und Ungarn).
Wieder anders ist es in Irland, Malta und Nordirland mit einem System der übertragbaren einzelnen Präferenzstimmen.
Manche Staaten haben Wahlkreise eingerichtet, manche haben ihr Wahlgebiet mit anderen Methoden unterteilt. Doch die meisten betrachten das ganze Land als einen einzigen Wahlkreis. Beispielsweise führen die Italiener und die Polen die Europawahl in jeweils getrennten Wahlkreisen durch. Das Wahlergebnis wird natürlich auf nationaler Ebene ermittelt. In Deutschland gibt es bei der Europawahl keine Wahlkreise und somit auch keine regionalen Direktkandidaten.
Die Stimmzettel sind nicht einheitlich, sondern von Staat zu Staat verschieden gestaltet, in Deutschland gibt es sogar von Bundesland zu Bundesland Unterschiede. Je nach Bundesland ist beispielsweise die Reihenfolge der Parteien auf dem Wahlzettel unterschiedlich. Diese Reihenfolge kann jedes Bundesland einzeln bestimmen. Sie richtet sich nach dem Ergebnis der Partei bei der letzten Europawahl im jeweiligen Bundesland. Außerdem können die Parteien selbst entscheiden, ob sie Bundeslisten oder Landeslisten aufstellen.
Immer wieder fragen sich nicht nur die Bundeswahlleiter, warum das eine Parlament in Brüssel und Straßburg nicht auf der Grundlage eines Gesetzes und einer gemeinsamen Wahlordnung gewählt werden solle. Dann gäbe es nämlich ein einheitliches Wahlrecht in allen europäischen Ländern. Das würde dem unitaristischen Gedanken des einen Europäischen Parlaments entsprechen.