Seit der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 ist der Begriff „Vorbereitung auf die Wiedervereinigung“ zu einem gängigen Bestandteil des südkoreanischen Diskurses geworden. Für Südkorea, das seit langem eine Wiedervereinigung mit dem Norden anstrebt, dient das deutsche Beispiel als wertvolles Vorbild. Es löst sowohl ein Gefühl der Scham darüber aus, die Wiedervereinigung nicht erreicht zu haben, als auch die Hoffnung, dass auch Korea dem deutschen Weg zur Wiedervereinigung folgen könnte.
Wie die politische Situation in Ostdeutschland 34 Jahre nach der Wiedervereinigung zeigt, ist der Prozess der Integration ein langfristiges Unterfangen, das nicht allein durch wirtschaftliche Integration erreicht werden kann. Mit anderen Worten: Die soziale und kulturelle Integration ist ebenso wichtig wie die wirtschaftlichen Anstrengungen.
Im Großen und Ganzen lässt sich der Integrationsprozess in Deutschland in zwei Phasen unterteilen: Die erste Hälfte wurde von der wirtschaftlichen Integration dominiert, während die zweite Hälfte aufgrund der unvollständigen Verankerung der Demokratie Probleme bei der sozialen und kulturellen Integration aufwies. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung waren mehr als neun Millionen Ostdeutsche von Arbeitslosigkeit betroffen, was zu einer existenziellen Krise führte. Die inneren Konflikte im wiedervereinigten Deutschland, insbesondere im ehemaligen Osten, wurden überschattet von der dringenden Notwendigkeit, diese Wirtschaftskrise zu lösen.
Soziale und kulturelle Konflikte
Da die Wiedervereinigung unter westdeutscher Führung stattfand und die DDR unter dem Stasi-Regime als Unrechtsstaat betrachtet wurde und von 40 Jahren Diktatur geprägt war, war es für die Ostdeutschen in der Anfangsphase der Wiedervereinigung schwierig, ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Infolgedessen bauten sich soziale und kulturelle Konflikte im Inneren auf, und – wie Ralf Dahrendorf 1990 voraussagte – zeigte das transplantierte demokratische System Anzeichen von Instabilität, erschüttert durch internen sowie externen Druck.
Das beweisen die jüngsten Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern. Die Linke ist vom Aussterben bedroht und wird sowohl von der AfD als auch von der neuen Linkspartei BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) herausgefordert, die sich von der traditionellen linken Politik distanziert hat. Dieser Wandel zeigt, dass sich die Ostdeutschen trotz ihrer Ursprünge in eine andere Gesellschaft verwandelt.
Gleichzeitig bestehen Perspektiven wie die von Professor Dirk Oschmann fort, der Ostdeutschland als eine „westdeutsche Erfindung“ bezeichnet („Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“) und das wiedervereinigte Deutschland als einen fortgesetzten Ost-West-Konflikt darstellt.
Begriffe „Wiedervereinigung“ und „Landsleute“ abgeschafft
Durch seine Wiedervereinigung bietet Deutschland Südkorea nicht nur die Vision einer Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel, sondern spiegelt auch die aktuelle Realität der Teilung der Halbinsel durch seine eigene Vergangenheit wider. Auf der Plenartagung des Zentralkomitees am 30. Dezember 2023 erklärte der nordkoreanische Führer Kim Jong-un, dass die innerkoreanischen Beziehungen „nicht mehr eine Beziehung zwischen Landsleuten“ seien, sondern „eine feindliche Beziehung zwischen zwei Staaten“. Darüber hinaus erklärte er auf der Obersten Volksversammlung am 15. Januar 2024, dass die Begriffe „Wiedervereinigung“ und „Landsleute“ vollständig abgeschafft werden sollten.
Diese Änderung der nordkoreanischen Haltung spiegelt die Reaktion Ostdeutschlands in der Vergangenheit wider. Als der westdeutsche Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969 auf den Alleinvertretungsanspruch Westdeutschlands verzichtete und Ostdeutschland faktisch als Staat anerkannte, aber die „nationale Einheit“ für eine künftige Wiedervereinigung bewahren wollte, reagierte die DDR sofort. Sie behauptete, es gebe zwei getrennte Nationen und Völker (Westdeutschland als kapitalistischer Staat, Ostdeutschland als sozialistischer Staat).
Parallelen mit der Nationalhymne
Ähnlich wie die DDR das Singen der ersten Strophe der Nationalhymne verbot, weil es darin „Deutschland, einig Vaterland“ hieß, strich Nordkorea den Text seiner Hymne, der sich einst auf die gesamte koreanische Halbinsel bezog, und strich Südkorea sogar von seinen Wetterkarten.
Das künftige Vorgehen Nordkoreas mit der Ablehnung des Konzepts einer „einzigen Nation“ lässt sich in ähnlicher Weise aus dem Fall der DDR ableiten. Ähnlich wie die DDR historische Persönlichkeiten wie Friedrich den Großen und Martin Luther neu interpretiert hat, wird Nordkorea wohl kulturelle Initiativen ergreifen, um die Vorstellung einer „sozialistischen Nation“ zu stärken.
Kontakt und Dialog abgebrochen
Solche Versuche wären jedoch im Wesentlichen ein internes Eingeständnis, dass eine Vereinigung auf der Grundlage des nordkoreanischen Systems unerreichbar ist. Die Bemühungen, den Lauf der Geschichte künstlich zu verändern, werden wahrscheinlich nicht von Erfolg gekrönt sein. Nachdem sich Nordkorea zur „Zwei-Staaten-Theorie“ bekannt hatte, schaffte es die Begriffe „Vereinigung“ und „Landsleute“ intern ab, löste die Abteilungen auf, die sich mit Südkorea befassten, und brach den Kontakt und Dialog ab, was die innerkoreanischen Beziehungen verschlechterte. In ähnlicher Weise benannte die DDR 1984 die ZK-Westabteilung ihres Zentralkomitees in ZK-Abteilung Internationale Politik und Wirtschaft um und versteckte sie.
Am 15. August dieses Jahres verkündete die südkoreanische Regierung ihre Vereinigungsdoktrin, in der sie eine klare Vision für die Wiedervereinigung auf der Grundlage der Werte der Freiheit skizziert. Anders als in der Vergangenheit hat Nordkorea diesmal jedoch nicht darauf reagiert. Auch wenn ein Durchbruch im Dialog zwischen den beiden Koreas noch aussteht, so ist doch eines sicher: Alle Koreaner, im Norden wie im Süden, sehnen sich nach dem Tag, an dem, wie Willy Brandt einmal sagte, zusammen wächst, was zusammen gehört. In diesem Sinne hoffe ich auch, dass Deutschland, das als Vorbild für Koreas geeinte Zukunft dient, die volle Integration erreichen wird.
Dr. Bongki Lee ist Research Fellow of Korea Institute for National Unification. Davor war er Direktor des Koreanischen Kulturzentrums in Berlin.