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Das Massaker „Jeju 4.3“ - vom Tabu zum UNESCO-Welterbe 

Mit 30.000 Toten war es die zweitgrößte Tragödie Koreas / Aufarbeitung nach 75 Jahren / Präsentationen in Berlin und London
Autor:
Ewald König
/
December 4, 2024
October 20, 2024
Südkoreas Botschafter Sang-beom Lim führte in die Berliner Präsentation ein

Bekannt ist Jeju, die größte Insel Südkoreas, als subtropisches Urlaubsparadies, als beliebte Hochzeitsinsel, als gefragter Filmdrehort sowie durch seine "Seefrauen", die ohne Atemgeräte bis zu vier Minuten tauchen können, um Meeresfrüchte zu ernten, und für diese 2000 Jahre alte Tradition immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe geworden sind.

Kaum bekannt ist Jeju für das genozid-ähnliche Massaker, das vor 75 Jahren mindestens 30.000 Todesopfer gefordert, fast alle Dörfer zerstört und die ganze Insel in Blut getränkt hatte. Tausende Bewohner wurden gefoltert, in einer zum Konzentrationslager umgebauten Alkoholfabrik eingesperrt, im Meer ertränkt. 

Korea nennt es „Jeju 4.3“. Diese Zahl steht für 3. April 1948, dem Tag des Höhepunkts der Unruhen. Die Bevölkerung war mehrheitlich kommunistisch. Die damalige Polizeirepression unter einer rechtsgerichteten Lokalregierung, eingesetzt von der US-Militärregierung in Seoul, löste Widerstand und Aufstände aus. Polizei, Armee und Geheimdienst schlugen mit Hilfe der amerikanischen Besatzungsarmee mit äußerster Brutalität zurück. Um die Rebellen zu isolieren, wurden alle Dörfer, die mehr als fünf Kilometer von der Küste entfernt waren, dem Erdboden gleichgemacht und die Bewohner umgebracht. Die Bestattung der Opfer, sogar die schlichte Erwähnung des Massenmordes waren verboten. Deshalb heißt das Massaker immer noch verharmlosend "Vorfall vom 3. April" oder schlicht "Vier drei". 

 

Jahrzehntelang ein Tabuthema

Jahrzehntelang wurde das Massaker geheim gehalten, verschwiegen und verdrängt. Es war ein Tabuthema. In koreanischen Museen heißt es ganz knapp, die US-Militärregierung habe die gewaltsame Niederschlagung von Aufständen befohlen, viele Inselbewohner seien dem zum Opfer gefallen. Auch in Schulbüchern findet sich nur kurze Erwähnungen. Ein halbes Jahrhundert lang gab es keinerlei öffentliche Auseinandersetzung mit der staatlichen Gewalt gegen die eigene koreanische Bevölkerung.

Die Bestrafung der Täter, Rehabilitierung der Opfer, Entschädigung für die Hinterbliebenen blieben aus. Auch die aktuelle Regierung Südkoreas überspielt die Gewaltgeschichte. Demnach sei die staatliche Gewalt gewiss eine Tragödie gewesen, aber man müsse nach vorne blicken und die Wirtschaft weiterentwickeln. Viele ordnen Jeju 4.3 bloß als Teil der Erfolgsgeschichte der südkoreanischen Demokratisierung ein.

Das ändert sich allmählich. Die Aufarbeitung, die Wahrheitssuche, die Recherche nach Dokumenten begannen vorsichtig und zaghaft vor 25 Jahren. Doch trotz dieser Aufarbeitung ist die Geschichte von Jeju weiterhin umstritten und sowohl im Inland als auch im Ausland relativ unbekannt.

 

Das neue Narrativ von Versöhnung

Statt Bestrafungen und Entschädigungen führte man das Narrativ von Versöhnung und Koexistenz ein. Allmählich entstanden lokale Erinnerungsorte, Bildungsstätten, ein Forschungszentrum und ein Friedenspark. Lokale Bürgerinitiativen bemühten sich um eine offene Erinnerungskultur, und das in Zusammenarbeit mit der jetzigen Lokalregierung.

Nun will Jeju 4.3 in die Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbes aufgenommen werden. Der Antrag wurde im November 2023 gestellt. Das Programm „Memory of he World“ (MoW) der UNESCO soll den freien Zugang zu Dokumentensammlungen sichern und kollektivem Gedächtnisschwund vorbeugen.

Mit einer Ausstellung von Dokumenten und Fotos und einem Symposium mit Experten unterstreicht die Provinzregierung von Jeju ihr Anliegen, über das 2025 entschieden wird. Die Eröffnung nahmen der Botschafter Südkoreas, Sang-beom Lim, und die Vize-Gouverneurin der Insel Jeju, Ae-sook Kim, vor. 

 

SIPRI-Direktor Dan Smith (r.) unterstützt – wie die Experten neben ihm – den Antrag als UNESCO-Weltdokumentenerbe

SIPRI-Direktor: Vorbild für Konfliktbewältigung

Dan Smith, Direktor des renommierten Stockholm Peace Research Institute (SIPRI), unterstützt den Antrag. In seiner Rede sagte er, gerade jetzt, wo die weltweiten Militärausgaben und die Zahl von Flüchtlingen noch nie so hoch gewesen seien, dürfe man nie vergessen, was passiert sei. „Man darf Jeju nicht vergessen, sonst könnte man auch Gaza und die Ukraine vergessen“, sagte Smith. Man müsse der Wahrheit in die Augen schauen. „Versöhnung kommt nicht von selbst.“ Jeju sei ein Beispiel für den Prozess der Erinnerung, des Gedenkens und der Versöhnung und ein Vorbild für die Bewältigung auch anderer Tragödien.  

Tobias Bacherle, Bundestagsabgeordneter der Grünen und dort Berichterstatter für Korea, sagte: „Wir sind es den Opfern, deren Nachkommen, aber auch den Tätern schuldig, die Taten aufzuarbeiten und dafür zu sorgen, dass sie nicht vergessen werden“.

Dass nur wenige Tage vor der Präsentation der Lokalregierung Jeju die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, war nicht geplant, aber passte perfekt. In einem ihrer Bücher beschreibt sie Jeju 4.3.

 

Die Vize-Gouverneurin von Jeju, Ae-sook Kim, steht für volle Aufarbeitung des blutigen Geschehens auf der Insel (alle Fotos: diplo.news)