Eigentlich ist es ja ganz einfach: Wird man eingeladen, sagt man zu oder sagt ab. Sagt man zu, sollte man auch hingehen. Und umgekehrt: Ist man nicht eingeladen, sollte man auch nicht hingehen. So ist das in Paris, in London, in Wien und anderswo.
Nur in Berlin gilt das faktisch nicht. Die diversen Sommerfeste, die in diesen Wochen den Terminkalender von VIPs (Very Important Persons) und NSVIPs (Not So Very Important Persons) füllen, liefern dafür jedes Jahr genügend Belege.
Wer in Berlin Gastgeber eines großen Empfangs oder eines gesetzten Dinners ist, muss sich auf vieles gefasst machen. Er muss wissen, dass hier geschriebene und ungeschriebene Regeln gerne missachtet werden. "Das ist echt berlinspezifisch", lassen verzweifelte Gastgeber wissen, "und wird immer schlimmer!"
Typisch für Berlin ist demnach die hohe No-Show-Quote: Der Gast wird eingeladen, meldet sich an – und erscheint nicht. Gastgeber rechnen in Berlin mit einer No-Show-Quote, also dem Anteil der Nichterschienenen, von 25 Prozent, Tendenz deutlich steigend.
Möchte man also ein Event für 500 Gäste veranstalten, lädt man mindestens 1.000 Personen ein. Davon wird die Hälfte verhindert sein und absagen. Aber statt der 500 kann der Gastgeber durchaus 700 Personen auf die Gästeliste setzen, da er sich darauf verlassen kann, dass 200, die ihr Erscheinen zugesagt haben, ohnehin nicht auftauchen.
Besonders peinlich ist das Nichterscheinen von Gästen bei gesetzten Essen. Bleiben an der Tafel Stühle frei, fällt das auf die Institution zurück, die der Gast repräsentiert. Und zu Recht vermisst der Gastgeber jegliche Wertschätzung. Chronische Nichtkommer sollten aber wissen, dass sich ihr Verhalten herumspricht, bei den Gastgebern in Botschaften, Landesvertretungen, Verbänden, aber auch bei den Managern der Locations.
Ein weiteres berlintypisches Szenario: Man wird persönlich eingeladen, nimmt aber nach eigenem Gutdünken weitere Begleitpersonen mit. In der Masse wirkt sich das aus. Das Garderobepersonal ist überfordert, das Buffet rasch geplündert, der Getränkevorrat nicht mehr ausreichend gekühlt, und die Kellner kommen mit dem Abräumen des schmutzigen Geschirrs nicht nach.
Manche Gastgeber gehen deshalb dazu über, in aller Deutlichkeit zu schreiben: Diese Einladung ist nur für Sie persönlich bestimmt, sie ist nicht übertragbar und nicht erweiterbar. Trotzdem verwechseln manche Gäste diese doppeldeutlichen Worte mit doppeldeutig.
Wer persönlich mit Gattin eingeladen ist, sollte nicht die Praktikantin mitbringen. Ist der Chef einer Institution eingeladen, heißt das nicht, dass ein halbes Dutzend seiner Mitarbeiter mit eingeladen ist – oder das halbe Dutzend sogar anstelle des Chefs erscheint.
Peinliches Szenario: Man ist zwar nicht eingeladen, kommt aber trotzdem und bringt die Hostessen am Welcome Desk in Verlegenheit, indem man mit Visitenkarten fuchtelt oder behauptet, man sei doch vom Botschafter persönlich im letzten Moment eingeladen worden. Oft genug hat diese Masche Erfolg.
Delikate Fälle betreffen jene Gäste, die ihre Funktion gewechselt oder längst ihren Ruhestand angetreten haben. Eigentlich müsste man dem Gastgeber kundtun, dass man nicht mehr die Position innehat, deretwegen man auf der Gästeliste steht. Manchen fällt das zu schwer.
Bei zu vielen Gästen laufen nicht nur Catering und Security aus dem Ruder, sondern auch die Kosten. Darauf weist Jan Martenson, Experte für Botschaftsempfänge, hin. Der Gastgeber muss wissen, dass ihm die Überzahl an Gästen, der höhere Getränkeverbrauch, aber auch das überschrittene Veranstaltungsende in Rechnung gestellt wird. Das ist übrigens die Policy jeder Location.
Wer Erklärungen für die Berliner Unsitte sucht, stößt auf das Überangebot von Veranstaltungen und Terminen, das die Auswahl, welche Einladung man annimmt, oft wirklich schwer fällt. Zudem ist Berlin stolz auf seine Liberalität und will niemanden zurückweisen. Und Berlin hat wesentliche größere Locations für Empfänge als andere Hauptstädte, in denen altehrwürdige Palais Platz für Empfänge mit höchstens 250 Personen bieten.
Jene Spezialisten, die reichlich Erfahrung haben, wie man auf Einladungslisten und Events landet, obwohl man definitiv nicht zur Zielgruppe der Gastgeber gehört, werden in der Branche „Eventisten“ genannt.
Sie wissen, was wann wo geboten wird. Womit nicht die Reden der einladenden Botschafter gemeint sind, sondern die Darbietungen am Buffet und die alkoholischen Getränke auf den Tabletts der Kellner.
Gewissen Typen begegnet man auf jedem Event – und kann sicher sein: Wenn die hier sind, dann muss das Buffet wirklich gut sein. Denn die Eventisten hätten ja auch andere Veranstaltungen auswählen können. Sie verfügen über genügend Erfahrung und ein perfektes Netzwerk, um zu wissen, welches Catering es wert ist, sich in eine Veranstaltung hineinzureklamieren.
Jene Grüppchen tauschen an den weiß gedeckten Stehtischen vor übervollen Tellern Erlebnisse und Empfehlungen tauschen aus und amüsieren sich dabei über die Warteschlangen am Buffet amüsieren, die zu umgehen sie mit ihrer Technik genial beherrschen.
Das Coronavirus hatte freilich auch die Eventisten unvorbereitet erwischt. Plötzlich konnten sie sich nicht mehr lückenlos durchfuttern wie in früheren Zeiten, als sie sich dank der Dichte von Empfängen und Locations im Regierungs- oder Botschaftsviertel über Wochen hinweg den Einkauf im Supermarkt ersparen konnten. Plötzlich gab es keine Einladungen mehr, aus denen sie mit einem Bekannten eigenmächtig eine „Zweiladung“ machen konnten.
Doch das ist vorbei. Mit Kennerblick lästern sie wie früher wieder über Buffet oder Wein, kritisieren zu lange Reden und zu viel Gelaber, ärgern sich über zu viele Gäste (!) oder beschweren sich über das Einladungsmanagement des Gastgebers.
So erzählte mir jüngst einer der Eventisten: Er habe sich (selbstverständlich ohne Einladung) auf die Teilnehmerliste setzen lassen wollen, sei aber trotz mehrerer trickreicher telefonischer Interventionen eindeutig abgewiesen worden. „So eine Frechheit!“, sagte er mit ehrlicher Entrüstung. „Da geh ich nicht mehr hin!“
Die offenbar typisch berlinerischen Phänomene bringen Gastgeber und Veranstalter zur Verzweiflung. Ich vermute, mit diesen Zeilen manchen Gastgebern aus dem Herzen und aus der Seele gesprochen zu haben.