Von Prof. Dr. Ole Döring
Anfang der 1980er Jahre kam in der Kreisstadt Jiangyong bei Yongzhou, an der Südgrenze der südchinesischen Provinz Hunan nach Guangdong, ein fast vergessener Schatz ans Licht. Die uralte „Schrift der Damen", 女书 Nüshu, hing 1000 Jahre nach ihrer undatierten Erfindung buchstäblich an einem seidenen Faden: Frau Yang Huanyi, die letzte grundständig Nüshu-Kundige, starb 2004 im Alter von 96 Jahren. Sie hatte noch Gelegenheit, ihr Wissen und ihre Aufzeichnungen über Nüshu mit Hilfe von Zhao Liming, einer Professorin der Tsinghua-Universität, für die Nachwelt zu dokumentieren.
Späte Wiederentdeckung
Nachdem sie mehrere Generationen im Schatten der neuen chinesischen Standardschrift und des allgegenwärtigen Putonghua verkümmert und phasenweise als „feudalistisch" diffamiert worden war, führte die späte Wiederentdeckung, mit dem Rückenwind der Modernisierungen nach Deng Xiaoping, die „Damen-Schrift" in das Bewusstsein einer immer größer werdenden Öffentlichkeit, über Fachkreise hinaus, in und jenseits von China. 2002 wurde sie in den Kanon des offiziellen „Erbes der Chinesischen Kultur" aufgenommen. Ein nationales Museum wurde gegründet und das kustodiale Amt der Nüshu-Übermittler geschaffen.
Phonetische Symbole
Es handelt sich bei diesen Zeichen, anders als bei der chinesischen Schrift, um phonetische Symbole. Deren Aussprache gibt die Bedeutung gesprochener Worte wieder – nämlich die des Tuhua: eines Dialekts der sinisierten Minderheit der Yao in Hunan. Nach heutigem Stand umfasst sie ca. 700 Worte bzw. Silben. Deren Gestalt ist von chinesischen Schriftzeichen abgeleitet, die einem Rauten-Muster folgen, aus Punkten und drei Arten von Strichen bestehen, die mit feinen, gleichmäßigen Linien gezeichnet sind. Oft wurden die Silben auf Papier und Fächern geschrieben, aber auch auf Kleidung und Gürtel gestickt. Die früheste Verwendung von Nüshu, die belegt ist, liegt als Bronzemünze aus der Zeit um 1860 vor.
Das Dilemma mit den Totenbeigaben
Von Anfang an steht die Interpretation dieser Schrift vor einem Dilemma, das mit ihrer besonderen Verwendungsweise zusammenhängt: sie wurde nicht vor allem verwendet, um Gedanken über Strecken oder Zeiten hinweg zu kommunizieren und somit auch zu konservieren. Als Totenbeigabe verbrannt oder, auf vergänglichem Material mit begraben, sind fast sämtliche alten Texte in der Geschichte verschwunden. Die Kunst zu schreiben und zu lesen blieb auf persönliche Übermittlung angewiesen. Deshalb sind die Inhalte nur indirekt, vor allem durch mündliche Überlieferung oder Sekundärtexte nachvollziehbar. So entsteht einerseits die Gefahr des Vergessens, andererseits die des spekulativen oder manipulativen Umgangs.
Faszinierende Schrift
Wichtigste Quelle sind bis heute biographische Aufzeichnungen in Damen-Schrift, die den Frauen von Jiangyong oblagen. Sie verbinden weibliche Perspektiven mit der Kreativität einer einzigartigen Ausdrucksform, persönliche Geschichten mit Volksweisheit, Mythen und Liedern. Heute begegnet uns das in dieser faszinierenden Schrift geronnene Denken, Sprechen, Singen, Dichten und Beten aus der Überlieferung in vielfältiger Gestalt. Wer sich auf ihre Spur macht, dem begegnen ästhetischer Genuss, künstlerische Freude, wissenschaftliche Schätze, gesellschaftliche Werte und kulturelle Kraft.
War es Rebellion? Feminismus ?
Entsprechend problematisch sind Versuche, die Nüshu unter Begriffe des jeweiligen Zeitgeistes zu fassen. Wie es auf Wikipedia als einer der wenigen international leicht zugänglichen Quellen heißt: „It is not known when Nüshu came into being." Dieses „Wann" ist unmittelbar mit dem „Warum" verbunden. Demgegenüber steht das Bedürfnis, eigene Zugänge zur Deutung der Bedeutung zu schaffen. Dichtung und Wahrheit sind dabei für uns nur durch einen dünnen Schleier getrennt. Leicht ist man versucht, dieser Spannung nachzugeben: Rebellion, Schwesternschaft bis hin zu Feminismus – vieles wird den Erschafferinnen der Damen-Schrift angedichtet.
Die Aneignung findet dabei oft unwillkürlich, manchmal aber auch mit einer Agenda statt, sei sie kommerziell oder ideologisch interessiert. Der Eindruck des Geheimnisvollen entsteht vor allem aus Verwechselung: man erwartet zunächst, so etwas wie Chinesisch geschrieben zu sehen. Weder die Laute noch die Form wird man so mit der Bedeutung in Verbindung bringen.
Dabei ist die Wahrheit viel interessanter als die Projektion heutiger Vorstellungen auf Chinas Vergangenheit. Kolonialistische Aneignung und profitorientierte Ausbeutung spielen eine ambivalente Rolle bei der Verbreitung und Verehrung der alten Kultur, die wohl nur durch würdige Behandlung geadelt werden kann. Ein Bild machen wir uns vom Zauber dieser Schrift, indem wir unsere Wahrnehmung ihrem eleganten Ausdruck anvertrauen. Die alten Laute, Worte und Geschichten sprechen dann für sich selbst.