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Die Größe der EU-Kommission: ein europapolitischer Skandal

Analyse von Günther Unser über einen brisanten Vorgang, der von Politik und Medien völlig ausgeklammert wird
Autor:
Günther Inser
/
October 17, 2024
October 17, 2024
Unumstritten ist, dass alle EU-Mitgliedstaaten mit ihrer Flagge vertreten sind. Bei den Kommissaren ist das umstritten (Foto: EU)

Nach einem – traditionsgemäß wenig transparenten – Auswahl- und Besetzungsverfahren stellte die wiedergewählte Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, am 17. September 2024 endlich ihr neues Team vor. 17 Männer und neun Frauen, jeweils von den Regierungen der Mitgliedstaten nominiert, bilden nunmehr das Kollegium für die anstehende fünfjährige Amtszeit.

Die Kritik der Medien an der vorgenommenen Ressortverteilung zielte auf verschiedene Aspekte:

• gescheitertes Versprechen der Präsidentin für ein geschlechtergerechtes Gremium, d.h. zu wenige Frauen

• fachfremde Besetzung vieler Kommissionsposten

• konservativere Ausrichtung oder grundsätzlich „Mehr Macht für die Präsidentin“

 

Grundsatzfrage ausgeblendet

Völlig ausgeblendet wurde allerdings die institutionelle Grundsatzfrage nach der Arbeitsfähigkeit und Effizienz eines Gremiums, in dem nach dem Prinzip „one state one vote“ jeder der derzeit 27 Mitgliedstaaten vertreten ist. Dabei wären die Kenntnis oder ein Blick in das aus zwei Verträgen bestehende Lissaboner Vertragswerk von 2007 (in Kraft getreten 2009) nicht zu viel verlangt, bestimmt doch der Vertrag über die Europäische Union (EUV) in Artikel 17, Absatz 5:

„Ab dem 1. November 2014 besteht die Kommission, einschließlich ihres Präsidenten und ihres HohenVertreters … aus einer Anzahl von Mitgliedern, die zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten entspricht“.

Das heißt: In der Kommission sollten damit jeweils nur noch 18 EU-Staaten vertreten sein. Vertraglich festgeschrieben wurden gleichzeitig Grundsätze eines vom Europäischen Rat festzulegenden Rotationssystems (AEUV Artikel 244). Stellt somit die Größe auch der neuen Kommission einen Vertragsbruch dar? Politische Entscheidungsträger setzen sich jedenfalls über rechtlich vereinbarte Verfahren hinweg.

 

Lissabon und die Nicht-Folgen

Ein Rückblick auf das Zustandekommen des Lissaboner Reformvertrags, der im Wesentlichen die Substanz des zuvor gescheiterten Verfassungsvertrags übernahm, verdeutlicht: Die Intentionen waren darauf gerichtet, die Europäische Union vor allem demokratischer, handlungsfähiger und transparenter zu machen. Angesichts der sich abzeichnenden Erweiterung der EU erschien dabei auch die Aufrechterhaltung des Prinzips "Jeder Mitgliedstaat ist inder Kommission vertreten" zunehmend unpraktikabel.

Zudem gestaltete sich der Zuschnitt von Zuständigkeitsbereichen für einzelne Ressorts immer problematischer. Eine Verkleinerung der Kommission wurde deshalb beschlossen, und die Regelung sollte nach der Europawahl im Mai 2014 zum 1. November in Kraft treten.

 

Umsetzung immer schon problematisch

Für wie problematisch allerdings die Umsetzung dieses Beschlusses von den EU-Staats- und Regierungschefs schon damals eingeschätzt wurde, beweist die abschließende Vertragsbestimmung: „ …sofern der Europäische Rat nicht einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschließt“ (EUV Artikel 17, Absatz 5).

Insbesondere bei den Regierungen einiger kleinerer EU-Staaten stieß die angestrebte Verkleinerung auch sehr schnell auf Kritik, obwohl sie alle dieser Vertragsänderung zugestimmt hatten. Die Bereitschaft der EU-Granden wie Deutschland und Frankreich, in einer fünfjährigen Amtsperiode nicht in der Kommission vertreten zu sein, durfte und darf angezweifelt werden.

 

Starke Vorbehalte in Irland

Am deutlichsten sichtbar wurden die Vorbehalte in Irland, wo die Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum im Juni 2008 die Ratifikation des Vertragswerks abgelehnt hatte. Die Nein-Kampagne sah durch Vertragsregelungen irische Interessen, insbesondere in der Neutralitäts-, Steuer- und Sozialpolitik verletzt. Grundsätzlicher war der verbreitete Vorwurf, die EU sei weiterhin undemokratisch. In diesem Kontext fielen die beschlossene Verkleinerung der Kommission und damit der Verlust eines ständigen Kommissars besonders ins Gewicht. Gefordert wurden entsprechende Garantien zur Erhaltung des Status quo.

Nach dem europäischen Irland-Schock ging es in zähen Verhandlungen zwischen Brüssel und Dublin nun darum, der irischen Regierung durch Entgegenkommen den Rücken für ein zweites Referendum zu stärken. Schließlich einigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs am 19. Juni 2009 auf Zugeständnisse in den genannten Politikbereichen, die in einem Protokoll dem EU-Recht hinzugefügt wurden. Bereits im Dezember 2008 undi m Juni 2009 hatte der Europäische Rat auf seinen Tagungen rechtlich unverbindlich signalisiert, fürs Erste von einer Verkleinerung der Kommission abzusehen.

Diese lediglich politische Zusage konnte jedoch nicht in das Protokoll aufgenommen werden. Damit war auch diese irische Forderung erfüllt, einem zweiten irischen Referendum stand nichts mehr entgegen; am 2. Oktober 2008 stimmte die Mehrheit für die Annahme des Reformvertrags.

 

Fragwürdige Kehrtwendung

Nunmehr musste die im Europa-Vertrag Artikel 17, Absatz 5 festgeschriebene Möglichkeit der Rücknahme der vertraglich vereinbarten Verkleinerung vor dem Zusammentritt der neuen Kommission am 1. November 2014 noch rechtsverbindlich geregelt werden. Am 22. Mai 2013 beschloss der Europäische Rat einstimmig, „dass weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommission angehört“ (2013/272/EU).

Um die politisch äußerst fragwürdige Kehrtwendung zu begründen, wurde „das Anliegen der irischen Bevölkerung in Bezug auf den Vertrag zur Kenntnis genommen“, das heißt im Klartext: das ablehnende Referendum. Die Rücknahme der Verkleinerung sollte allerdings – und hier wird der Vorgang für die aktuelle Kommissionsgröße relevant – zunächst nur für die am 1. November 2014 zusammengetretene Kommission gelten.

Dezidiert festgelegt wurde in der Rechtsakte nämlich, „die Auswirkungen dieses Beschlusses sollten fortlaufend überprüft werden“, und zwar durch den Europäischen Rat wie folgt: entweder „vor Ernennung der ersten Kommission nach dem Beitritt des dreißigsten Mitgliedsstaats“ oder „vor Ernennung der Kommission, die der Kommission, diei hr Amt am 1. November 2014 antreten soll, nachfolgt“ – „je nachdem welches dieser Ereignisse eher eintritt“.

 

Eklatantes rechtliches Fehlverhalten

Damit war die Pflicht zu einer Überprüfung der Rücknahme der Kommissionsverkleinerung bei der Zusammensetzung aller nachfolgenden Kommissionen verbindlich vereinbart worden: erstmals vor Zusammentritt der Kommission am 1. November 2019. Nehmen wir mal an, dass wenigstens in den Brüsseler EU-Kulissen darüber beraten wurde – ein Beschluss des Europäischen Rats kam jedoch nicht zu Stande.

Auch im Vorfeld der zum 1. November 2024 neu zu bildenden Kommission ignorierte der Europäische Rat die vreinbarte Überprüfung der Kommissionsgröße und fasste wiederum keinen Beschluss. Moniert wurde dieses eklatante politische und rechtliche Fehlverhalten weder von den Mitgliedstaaten noch von den über die EU berichtenden Medien. Weiter so, wird schon werden!

 

Vereinbart, aber gescheitert

Nicht verwunderlich, waren doch bereits im Wahlkampf zur Europawahl 2024 institutionelle Fragen nach der zukünftigen Entwicklung und Arbeitsweise der Europäischen Union, auch im Hinblick auf weitere Beitritte, weitgehend ausgeblendet worden. Gebetsmühlenartig wurden lediglich Mehrheitsentscheidungen in der Sicherheitspolitik gefordert, ohne die notwendigen Voraussetzungen in Betracht zu ziehen. Ein Diskurs über die Effizienz und kaum wahrnehmbare Außendarstellung des weiterhin unveränderten Kommissionskollegiums aus Mitgliedern aller EU-Staaten fand nicht statt.

Fazit: Ein über Jahre gescheitertes, vertraglich vereinbartes Reformvorhaben dient als Lehrstück für die schwierige Umsetzung hochfliegender europapolitischer Reformpläne.

 

Dr. Günther Unser ist Politikwissenschaftler, Lehrbeauftragter für Internationale Beziehungen an der RWTH Aachen Universität, Experte für Internationale Organisationen, vor allem für die Europäische Union und die Vereinten Nationen

 

Author:
Günther Inser
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Oct 17, 2024 19:15